Schreibwerkstatt Günter Neuenhofer, VHS-Bocholt, September 2012

„Literarisch“ Schreiben -  Anders schreiben - Formen der experimentellen Poesie

Präsentationsmöglichkeiten von Sprache und Text

Lautpoesie ist eine Gattung der modernen Lyrik, die auf sprachlichen Sinn ganz oder zu einem erheblichen Teil verzichtet. Analog zur abstrakten Malerei versucht die Lautpoesie, die Sprache nicht in abbildender beziehungsweise inhaltlich-bezeichnender Funktion, sondern rein formal als Lautmaterial anzuwenden. Die Lyrik nähert sich dadurch konsequent − in dem Maße, in dem Semantik verschwindet und der Klang in den Vordergrund tritt − stark der Musik an.
Klangpoesie als Performance erfreut sich, gerade im Rahmen von Slam-Poetry-Sessions, grosser Beliebtheit.


Als Scat (engl. to scat „hasten, jagen“), auch scat-singing, bezeichnet man eine spezielle Form des
Gesangs im amerikanischen Gospel und im Jazzgesang, die ein improvisiertes Singen von rhythmisch und melodisch aneinandergereihten Silbenfolgen ohne Wortbedeutung und ohne zusammenhängenden Sinn bezeichnet; mit den Silben und Wortfragmenten werden lautmalerisch instrumentale Phrasen nachgeahmt, beispielsweise Elemente aus dem Instrumentalstil der umgebenden Musiker.

Die Konkrete Poesie verwendet die phonetischen, visuellen und akustischen Dimensionen der Sprache als literarisches Mittel. Diese Form der Literatur möchte sich nur noch auf ihre eigenen Mittel beziehen: Wörter, Buchstaben oder Satzzeichen werden aus dem Zusammenhang der Sprache herausgelöst und treten dem Betrachter „konkret“, d.h. für sich selbst stehend, gegenüber.

Potentielle Literatur: Oulipo ist die Abkürzung von „Ouvroir de Littérature potentielle“
Der Satz „Kein Spiel funktioniert ohne Regeln“ wird von den Vertretern potentieller Literatur auf das literarische Schaffen angewendet: Zunächst wird eine Regel vorgegeben, die eine sprachliche oder auch eine mathematische Vorgabe sein kann. Dann wird darauf aufbauend das Gedicht oder der Essay erstellt. Ein Prototyp für diese Art von Literatur sind die Hunderttausend Milliarden Gedichte von Raymond Queneau: zehn Sonette, in denen alle Verse miteinander kombiniert werden können. (webdoc.sub.gwdg.de/ebook/diss/2003/fu-berlin/2001/9/12_-_kapitel_9.pdf)

 

Visuelle Poesie ist ein Sammelbegriff für alle Arten von Poesie oder Dichtung, bei denen die visuelle Präsentation eines Textes ein wesentliches Element der künstlerischen Konzeption darstellt. Visuelle Poesie ist abzugrenzen gegen Kalligraphie und typographische Kunstformen, in denen eine neue visuelle Form für bereits existierende Texte gefunden wird.

„New Media Poetry“, „E-Poetry“ oder „digitale Poesie“
Neben Videopoesie, (elektronischer) Laut- sowie Slam- oder Spoken Word Poesie hat sich in den letzten Jahren die digitale Poesie als neue Facette in der poetischen Evolution herausgeschält: Nach einzelnen und regional begrenzten Erscheinungen seit den späten 50ern, formiert sich spätestens seit 1992, mit größerer Öffentlichkeit seit 1996 ein selbstorganisierendes internationales Netzwerk der poetischen Beschäftigung mit den digitalen Medien. Es haben sich mittlerweile Plattformen im Internet und in Form von Ausstellungen, Festivals und Symposien herausgebildet

Schreibübungen und Materialien

 

-Automatisches Schreiben – Worte und Themen finden
-Texte mit Hilfe von Clustern bzw. Widerspruchclustern schreiben
-Das Cluster-Verfahren (auch Clustering) ist eine von Gabriele L. Rico entwickelte Methode des Kreativen Schreibens. Dabei werden Assoziationsketten notiert, die von einem Zentralwort ausgehen. Das Clustering ist ein Brainstorming-Verfahren.
„Wartender Satz“ (eine Methode von G.Benn): einen Satz aufschreiben und dann warten, bis sich ein neuer einstellt.

Improvisations- und Gestaltungsübungen:

Zehn Worte der Alltagssprache aufschreiben und einen Text schreiben, in dem diese Worte vorkommen. Dann die Worte zu einem Mesostichon ordnen. Ein Mesostichon (von griech. μεσος = in der Mitte und στιχος = Zeile) ist ein Vers oder ein Gedicht, bei dem eine senkrechte Buchstabenreihe wieder ein Wort oder einen Satz ergibt.

Anhalten!
Behupen?
Umsteigen,
davonfahren.


Mesosticha können auch eine Methode der Steganographie, also der Verschlüsselung von Texten, sein. John Cage entwickelte eine Methode, auch aus epischen Texten Mesosticha zu gewinnen. So entstand etwa Urban Circus on Berlin Alexanderplatz aus Döblins Werk. (www.straebel.de/praxis/text/t-urban_circus.htm)

 

Akrostichon: zu jedem Buchstaben des  eigenen Vor- und Zunamens ein Wort finden. Dann einen Satz formulieren, der ein Thema ergeben kann. Ein Akrostichon (von griechisch ἄκρος ákros ‚Spitze‘ und στίχος stíchos ‚Vers‘, ‚Zeile‘) ist eine Form, bei der die Anfänge hintereinander gelesen einen Sinn, beispielsweise einen Namen oder einen Satz, ergeben.

Weitere Aufgaben: Satzmaterial ergänzen, erweitern oder verändern

1. Absurde Inhalte: Beginne mit dem Wort „Jetzt….“
Beispiel:

Nicht jetzt.

Jetzt bekomme ich gerade Besuch vom Teufel.

Jetzt flüchte ich mit Tolstoi in den Kaukasus.

Jetzt kämpfe ich mit Alligatoren im Sumpf.

Jetzt stehe ich zum ersten Mal auf der Bühne.

Jetzt verwandele ich mich in einen Tiger.

Jetzt esse ich süße Mochis.

Jetzt bin ich heimlich schwanger.

Jetzt bin ich ein kurzsichtiger Löwe.

Jetzt füttere ich einen Säugling mit einem Regenwurm.

Jetzt verliebe ich mich gerade in einen Kotzbrocken.

Füge Worte oder Satzteile ein!
2. …sah ich dich
3. Wenn einer da wäre, mich bäte
4. Im/ Anfang /war /das /Wort

Im Anfang war das Wort / und das Wort war bei Gott, / und das Wort war Gott./ Im Anfang war es bei Gott./ Alles ist durch das Wort geworden / und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. (Johannesevangelium)


Beispiele:
Am Anfang, steht im Buch der Bücher, also nicht im Postwurf von Ikea, war, nein, kein Meer, sondern wir wissen es, das Wort.“ (Aus „Wortweltschöpfung“ von Franzobel)

 
him hanfang war das wort hund das wort war bei gott hund gott war das wort hund das wort (Jandl: fortschreitende räude,  Schreibwerkstatt 21.5.2010)

 

 

Nirgendwo (Yasmina Reza)

Ich kenne die Sprachen von Vater, Mutter, meinen Vorfahren

nicht, keine davon, ich erkenne weder Gegend noch

Baum, kein Boden gehört zu mir, wie man so sagt, ich

komme von dort, es gibt keinen Boden, wo ich die brutale

Sehnsucht nach der Kindheit empfände, keinen Boden,

wo ich schreiben könnte, wer ich bin, ich weiß nicht, von

welchem Lebenssaft ich mich genährt habe, das Wort Herkunft

existiert ebenso wenig wie das Wort Exil, ein Wort,

das ich zwar zu kennen glaube, aber das ist falsch, ich kenne

keine Musik der Anfänge, keine Melodien, keine Wiegenlieder,

als meine Kinder klein waren, sang ich sie in einer

Phantasiesprache in den Schlaf.
Woher mein Vater kam,…

Aus "Der Tabakladen" von Alvaro de Campos, einem der vielen Pseudonyme des portugiesischen Lyrikers Fernando Pessoa.

Ich bin nichts.
Ich werde nie etwas sein.
Ich kann nicht einmal etwas sein wollen.
Abgesehen davon trage ich in mir alle Träume der Welt.

Samuel Beckett „ Der Namenlose „  (Ausschnitt)

Wo Leute sind, sagt man, sind Dinge. Soll das heißen, dass man, wenn man jene gelten lässt, auch diese gelten lassen muss? Es wird sich zeigen. Zu vermeiden, ich weiß nicht warum, ist der systematische Geist. Leute mit Dingen, Leute ohne Dinge, Dinge ohne Leute, nicht so wichtig, ich rechne damit, dies alles in kurzer Zeit abtun zu können. Ich weiß noch nicht wie. Das Einfachste wäre, nicht zu beginnen. Ich bin jedoch genötigt zu beginnen. Das heißt, dass ich genötigt bin weiterzumachen. Ich werde schließlich vielleicht von wer weiß was umgeben sein, auf einem wahren Rummelplatz. Unablässiges Kommen und Gehen Jahrmarktstrubel. Nur keine Bange, ach was.

Mit dem Namenlosen gelingt es Beckett endgültig, sich von traditionellen Erzählmustern zu lösen und eine Art inneren – an James Joyce geschulten – Monolog zu entwickeln, der schwindelerregend und um sich selbst kreisend keine mimetischen Rückschlüsse mehr zulässt. Redezwang geht einher mit der Hoffnung, im Schweigen zu münden.

Möglichkeiten der Teilnahme an einem Schreibwettbewerb:

1. Euregio Poëzieprijs 2013 : ZUSENDUNGEN VOR DEM 31. DEZEMBER 2012 AN: E.mail: euregiopoesiepreis@web.de Stiftung Künstlerdorf Schöppingen, Feuerstiege 6 D-48624, Schöppingen Germany

Der Preis besteht aus: 1000 Euro. Das gewinnende Gedicht erhält für drei Jahre einen Platz auf einer Tafel im Garten von Bernardus zu Bredevoort in der Boekenstad Bredevoort (nl).

Eine Auswahl der besten Gedichte aus allen Einsendungen wird aufgenommen in eine Anthologie; sie wird demPublikum erstmals präsentiert während der Poesienacht 2013.

Derzeitige Ausstellung in Bredevoort: Een tentoonstelling bij gedichten van Willem Wilmink in de tuin van St. Bernardus in Boekenstad Bredevoort. Twaalf fotografen van het Oostgelders Fotografen Collectief hebben zich laten inspireren door het werk van Willem Wilmink. De tentoonstelling toont 30 foto’s met gedichten.

Niet meer op iemand wachten, / niet meer denken: / waar zou ze zijn, / wie ontmoet ze, / wanneer komt ze. / Niet meer op iemand wachten, / zelfs naar dat wachten / terugverlangen.

(Verzamelde liedjes en gedichten blz. 461 von W.Wilmink)

2. Online-Einsendung eines Gedichts für den Wettbewerb der Brentano-Gesellschaft
 
Sie können Ihr Gedicht über das unten folgende Online-Formular direkt per E-Mail an uns senden. Einsendeschluß ist der 01. Oktober 2012. Bitte beachten Sie, daß Ihr Gedicht nicht länger als 20 Zeilen sein darf.  Es darf für den Wettbewerb nur ein einziges Gedicht eingesendet werden. Sie erhalten von uns dann eine email zur Bestätigung, daß Ihr Gedichtbeitrag an uns gesendet wurde. In der neuen Ausgabe der "Frankfurter Bibliothek" gibt es drei Klassen. Wählen Sie die Kategorie, für die Sie das Gedicht einsenden wollen. Wählen Sie Klasse A mit frei wählbarem Thema, Klasse B für das Thema "Das Licht" oder Klasse C für das Thema "Das Währende".

 

 


Normalsprache und poetische Kunstsprache

1.      Automatisches Schreiben über ein „Ding“

2.      Reduktion des Geschriebenen auf einen Satz

3.      Den Satz in Verszeilen schreiben

4.      Beispiele von Jandl und Brinkmann. Kurzformen: Elfchen und Haiku

5.      Dingbeschreibung in Kinder- und Gastarbeitersprache

6.      Beispiele literarischer Kunstsprachen von Jandl und Pastior

 

Materialien und Schreibaufgaben:

 

Einfache Beschreibungen von Dingen in „Normalsprache“
(s. Schreibwerkstatt 2006–I)


stuhl (ernst jandl)

 

der leichte

schwarze

klappstuhl

 

darauf

ein stapel

zeitungen

von verschiedenen

tagen;


die un
benützte
lehne

 

das hemd (ernst jandl)

 

dieses hemd schon dreckig, ist

nicht die frage; sie ist

ist dieses hemd schon dreckig.

 

ist

dieses hemd schon dreckig, ist

nicht die frage; sie ist

wirkt dieses hemd schon dreckig.

 

Photographie (Brinkmann)

 

Mitten

Auf der Straße

Die Frau

In dem

Blauen

Mantel


"Kunstsprache"

 

Jandl (Die Humanisten, s. Schreibwerkstatt vom 25.4.2012)

 Es gibt viele Möglichkeiten, ein Gedicht zu machen, und jeder, der Gedichte macht, müsste immer neue Möglichkeiten dafür entdecken; dann wird diese Arbeit für ihn selbst immer wieder etwas Neues sein, und das Ergebnis dieser Arbeit, das Gedicht, für den Leser jedes Mal ein Abenteuer. ( Jandl in einem kleinen programmatischen Text mit dem Titel „Aufgaben“, 1970)

 

Gegen Grammatikregeln der Schriftsprache schreiben

 

von einen sprachen (ernst jandl)

 

schreiben und reden in einen heruntergekommenen sprachen

sein ein demonstrieren, sein ein es zeigen, wie weit

es gekommen sein mit einen solchenen: seinen mistigen

leben er nun nehmen auf den schaufeln von worten

und es demonstrieren als einen den stinkigen haufen

denen es seien. es nicht mehr geben einen beschönigen

nichts mehr verstellungen. oder sein worten, auch stinkigen

auch heruntergekommenen sprachen – worten in jedenen fallen

einen masken vor den wahren gesichten denen zerfressenen

haben den aussatz. das sein ein fragen, einen tötenen.

 

Das Akkusativ-Maskulinum dient als Standardkasus, das finite Verb wird durch Infinitive ersetzt, das Verb folgt direkt dem Subjekt und Wörter werden verändert.( www.mynetcologne.de/~nc-wiggerma/von_einen_sprachen.pdf)

 

Oskar Pastior Pastior liest eigene Gedichte

 

das gedicht gibt es nicht. Es/gibt immer nur dies gedicht das/dich gerade liest. aber weil/du in diesem gedicht siehe oben/sagen kannst das gedicht gibt/es nicht und es gibt immer nur/dies gedicht das dich gerade/liest kann auch das gedicht das/du nicht liest dich lesen und/es dies gedicht hier nur immer/nicht geben. beide du und du/lesen das und dies. Duze beide/denn sie lesen dich auch wenn/es dich nicht nur hier gibt (www.freitag.de/autoren/der-freitag/grosser-wosinn-kleiner-wannsinn)

 

Jetzt kann man schreiben was man will“,  u.a.Gedichtgedichte, Höricht, Fleischeslust (Oskar Pastior, Werkausgabe Bd 2, 2003). :

Wo der Große Wosinn in den Kleinen Wannsinn mün/det, dort ist es dann: Vollmond. Wo umgekehrt der/Kleine Wosinn in den Großen Wannsinn mündet: dann/eben nie. Wie Klein und Groß miteinander/müssen! So ist es klar wie Espenlaub.

 

Bei Oskar Pastior verlässt man das Sichere, sicher Geglaubte. Unversehens verschieben sich die grammatisch-syntaktischen Ordnungssysteme, der Laut, der Satz, der Sinn.  

 

Die gedichtgedichte u
nterscheiden sich ein
wenig mehr vom papier
als papier von ih
nen in diesem spielra
um befinden sich die
chancen und das elend
des einen wie der and
eren vergleichen lass
en sich die GEDICHTGE
DICHTE nur mit dingen
die vergleiche aushal
ten insoweit sind sie
verbindlich als erfin
dungen sind sie dem v
erschleiß unterworfen
als deutschtext jedoc
h verhalten sie sich
zum beispiel anders a
ls theorie sie dienen
manchem behufe und ha
ben die lacher auf de
r kehrseite während d
es schweigens kämpfen
die musen

(Pastior)

 

 

In der ersten Zeile...

in      der       ersten       zeile      steht       ein

A      und      noch      ein    A    es  sind      di

e beiden A der ersten zeile in der zweiten zei

le steht ein A und noch ein A es sind die beid

en A der ersten zeile aber untereinander verta

uscht in der dritten zeile steht ein A und noc

h ein A es sind nicht mehr die beiden A der er

sten zeile sondern die beiden A der vierten ze

ile allerdings untereinander vertauscht das ko

mmt in der vierten zeile zum vorschein wo ein

A steht und noch ein A also die beiden A der v

ierten zeile allerdings untereinander nicht ve

rtauscht das gedicht kann horizontal und verti

kal gelesen werden wodurch die wirkung frappan

t gesteigert wird bitte nachzeichnen
(Gedichtgedichte)

 

 

Obwohl mein Vater nicht nur Zeichenlehrer war sondern später auch einmal starb, hat meine Mutter mich zwar sowohl in Siebenbürgen als auch in jenem Jahre, das für mein weiteres Leben ausschlaggebend werden sollte, aber doch geboren. Ähnlich komplexe Sachverhalte sind seither in zunehmendem Maße daran schuld, daß ich nicht nur Gedichte schreibe, sondern auch andere nicht.

 

 

Für Pastior ist der Text „Unding an sich“ und als solches Gegenstand seines Interesses. Sein Augenmerk liegt auf der

Entstehung von diesen sprachlichen Undingen, die er selbst produziert.



„Freies“ Schreiben  und strukturiertes Schreiben

Der Innere Monolog wird oft zur Vermittlung von Gedankenvorgängen gebraucht. Er besteht aus direkter Rede, die aber entweder nicht ausgesprochen oder von Außenstehenden nicht bemerkt wird.

Wie lang' wird denn das noch dauern? Ich muß auf die Uhr schauen... schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht's denn? Wenn's einer sieht, so paßt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch' ich mich nicht zu genieren... Erst viertel auf zehn?... Mir kommt vor, ich sitz' schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin's halt nicht gewohnt... Was ist es denn eigentlich? Ich muß das Programm anschauen... Ja, richtig: Oratorium! Ich hab' gemeint: Messe. Solche Sachen gehören doch nur in die Kirche! Die Kirche hat auch das Gute, daß man jeden Augenblick fortgehen kann. –

Arthur Schnitzler: Lieutnant Gustl (Beginn) .

Der Bewusstseinsstrom wird als die „Radikalisierung personalen Erzählens“ bezeichnet, da auch dort die Innenwelt der Figur kommentarlos präsentiert wird und der Erzähler aus dem Geschehen zurücktreten soll.

"und an dem Abend wo wir das Fährschiff in Algeciras verpaßt hatten der Wächter wie er so heiter und alles in Ordnung herumging mit seiner Laterne und oh der reißende tiefe Strom oh und das Meer das Meer glührot manchmal wie Feuer und die herrlichen Sonnenuntergänge und die Feigenbäume in den Alamedagärten und rosa und blauen und gelben Häusern und die Rosengärten und der Jasmin und die Geranien und Kaktusse und Gibraltar als kleines Mädchen wo ich eine Blume des Berges war ja wie ich mir die Rose ins Haar gesteckt hab wie die andalusischen Mädchen immer machten oder soll ich eine rote tragen ja und wie er mich geküßt hat unter der maurischen Mauer und ich hab gedacht na schön er so gut wie jeder andere und hab ihn mit den Augen gebeten er soll doch nochmal fragen ja und dann hat er mich gefragt ob ich will ja sag ja meine Bergblume und ich hab ihm zuerst die Arme um den Hals gelegt und ihn zu mir niedergezogen daß er meine Brüste fühlen konnte wie sie dufteten ja und das Herz ging ihm wie verrückt und ich hab ja gesagt ja ich will Ja."
James Joyce: Ulysses (Schluss)

Text-Quelle: ttp://www.br-online.de/br-alpha/klassiker-der-weltliteratur/james-joyce-roman-ulysses-ID1299513391794.xm)

s. S.Beckett, Der Namenlose (Schreibwerkstatt v. 5.9.)

Beispiel für eine Strukturierung:

der Textband „det/das“ von inger christensen (dt/dän. 463 S., 2002)

PROLOGOS
"Das. Das war es. Jetzt hat es begonnen. Es ist. Es währt fort. Bewegt sich. Weiter. Wird. Wird zu dem und dem und dem. Geht weiter als das. Wird anderes. Wird mehr. Kombiniert anderes mit mehr und wird fortwährend anderes und mehr."

LOGOS (DIE BÜHNE; DIE HANDLUNG; DER TEXT; jeweils mit 8 Kapiteln mit jeweils 8 Texten)

EPILOGOS  (Inger Christensen)

Das
Das ist es
Es ist das ganze
Es ist das ganze in einer menge
Es ist das ganze in einer menge verschiedenes
Es ist das ganze in einer menge verschiedener menschen
In der angst
Aber es ist keine ganzheit
Es ist gar nicht fertig
Es ist nicht vorbei
Und es hat nicht begonnen
Es beginnt
In der angst
In der angst wie ein ausruhn
Angst davor allein zu sein
Angst davor zusammen zu sein
Angst vor dem abgeschlossenen
Angst vor dem unabgeschlossenen
Angst vor dem geschlecht
……
Angst vor dem tode
beginnt überall
überall in einem menschen
einem menschen dessen gesicht
ein viel kleineres gesicht wird
fluchtpunkt
für sein eigenes verschwinden
in einem menschen

( … ) (Auszug aus „det / das)
Inger Christensens neuer Gedichtband

Wenn ich Gedichte schreibe, dann kann es mir einfallen, so zu tun, als schriebe nicht ich, sondern die Sprache selber.
Ich tue so, als wäre es möglich, als Person ein wenig zurückzutreten und die Sprache sozusagen von außen zu überwachen, so als hätte ich sie selber nie benutzt.
…………..
Ob Gedichte nun aber auf die eine oder auf die andere Weise geschrieben werden, ob ich nun so tue, als schriebe ich oder als schriebe die Sprache, ob ich nun schlecht und recht die Welt lese oder sage, daß ich ein Teil der Welt bin, der die Welt liest, und daß sie damit sich selbst liest, so bin und bleibe ich der naive Leser, ein Eingeborener, der seine Welt nie von außen sehen kann. Und mein Gedicht wird dasselbe Verhältnis zum Weltall haben wie das Auge, das seine eigene Netzhaut nicht sehen kann. Jedenfalls aber sieht es. Und es liest weiter.
(aus: Der Geheimniszustand und Das Gedicht vom Tod, 2001)

Verwandlung von Realität in Bildern

Max Beckmann und Rudolf Hausner - Adam Massiv, 1969 (Wiener Schule des Phantastischen Realismus)


Verwandlung von Realität im kreativen Wortfindungsprozess

1.       Beschreibe sachlich ein Bild, das du wahrnimmst.

2.       Beschreibe ausgehend von einer alltäglichen Situation eine phantastische Veränderung des Wahrgenommenen im Sinne einer „Wortweltschöpfung“, indem du unterschiedliche Bereiche vermischst, z.B. Jahreszeiten, menschliche und tierische Körperteile, Wünsche und Erlebtes.

Beispiele und Materialien

Kathrin Schmidt http://www.planetlyrik.de/thomas-geiger-hrsg-laute-verse/2010/11/

Ich habe birnen gekauft, sie duften
unter der achsel hervor, aus dem
beutel, du könntest sie,
wenn du nur wolltest, erraten.

hättest du birnen erraten, wären wir
schwimmen gegangen im süßen saft, wir wären
beide behände delphine gewesen, denen der abend nichts anhaben kann.

BLINDE BIENEN

im rücken, im herbst steckt die ahnung, wir könnten
bleifarben bleiben, zweigeteilt himmelsfindling genannt,
versterbezahlen bekümmern uns kaum, wir gehen
aaaaaschlupflungenklamm
ins gehäuse, getöse, machen uns etwas aus derbem
aaaaaschuhlederklang,
verfahrensfehler geben den rahmen, vernageltes holz,
das auf nichts aus ist. ein reh schaut durchs fenster herein.
noch sind wir nicht sichtbar, ein mottenpaar, das kastanien
aaaaazusetzt.
verlarvte kinderpuppen haben wir eilig verlassen,
man minimiert uns, indem man das laub aufrafft,
das sommers schon fällt. wenn die bienen in ihrer blindheit
am himmel baumeln wie faules gezänk. wenn ein abgehalfterter ärmel
zurückbleibt. steh du ruhig auf, deine stimme ist milchkaffeefarben,
dein singen gelingt nicht. die blinden bienen haben pulver im pelz,
daß es stäubt, daß es juckt. betäubt taumeln sie zwischen den bäumen,
den sträuchern und meinen uns nicht. für den augenblick
laß ich sie fahren, die ahnung im rücken, im herbst.

Vorbilder für surreale Erzählweisen

Magischer Realismus

Der magische Realismus stellt die Verschmelzung von realer Wirklichkeit (greifbar, sichtbar, rational) und magischer Realität (Halluzinationen, Träume) dar. Er ist eine „dritte Realität“, eine Synthese aus den uns geläufigen Wirklichkeiten. Der Übergang zum Surrealismus ist fließend.

Gabriel Garcia Marquez (*1927 in Kolumbien - 2012): Ein sehr alter Herr mit riesengroßen Flügeln (Auszüge)

Am dritten Regentag hatten sie im Hausinnern so viele Krabben getötet, daß Pelayo durch seinen überschwemmten Hinterhof waten mußte, um sie ins Meer zu werfen, denn das Neugeborene hatte die ganze Nacht gefiebert, und man glaubte, der Pestgestank sei daran schuld. Die Welt war trostlos seit Dienstag. Der Himmel und das Meer waren ein einziges Aschgrau, und der Sand des Strandes, der im März funkelte wie Glutstaub, hatte sich in eine Brühe aus Schlamm und verfaulten Seemuscheln verwandelt. Das Licht war so zahm am Mittag, daß Pelayo, nachdem er die Krabben fortgeworfen hatte, beim Heimkehren nur mit Mühe wahrnahm, was sich da hinten im Hof, bewegte und jammerte. Er mußte ganz nahe herantreten, um zu entdecken, daß es ein alter Mann war, der mit dem Gesicht im Schlamm lag und sich trotz großer Anstrengung nicht aufrichten konnte, weil ihn seine riesengroßen Flügel daran hinderten.

…Es geschah nämlich in jenen Tagen, daß unter vielen anderen Attraktionen der wandernden karibischen Jahrmärkte im Dorf das Schauspiel einer Frau zu sehen war, die aus Ungehorsam gegen ihre Eltern in eine Spinne verwandelt worden war. Der Eintrittspreis für ihre Besichtigung war nicht nur geringer als der für den Engel, es war auch erlaubt, ihr jede Art von Fragen über ihre absonderliche Beschaffenheit zu stellen und sie von vorn und hinten zu untersuchen, so daß niemand die Wahrheit des Entsetzlichen bezweifeln konnte. Sie war eine ungeheure Tarantel von der Größe eines Hammels und mit dem Kopf einer traurigen Jungfer. Aber nicht ihr aberwitziges Aussehen war das Herzzerreißendste, sondern die ernste Kümmernis, mit der sie die Einzelheiten ihres Mißgeschicks erzählte. Fast noch ein Kind, hatte sie sich aus ihrem Elternhaus auf einen Ball gestohlen, und nachdem sie die ganze Nacht ohne Erlaubnis getanzt hatte, riß auf dem Heimweg ein fürchterlicher Donnerschlag den Himmel in Hälften, und durch diese Spalte stieß der Schwefelblitz herab, der sie in eine Spinne verwandelte. Ihre einzige Nahrung waren Fleischbällchen, die mildtätige Seelen ihr in den Mund stopften…..
http://www.zeit.de/1972/36/Ein-sehr-alter-Herr-mit-riesengrossen-Fluegeln

Materialien und Informationen zum Thema „Erschreiben einer künstlerischen Wortwelt“

OBERIU („Vereinigung der realen Kunst“) war eine avantgardistische Künstlervereinigung in St. Petersburg. OBERIU wurde 1927 gegründet und existierte bis zu ihrem staatlichen Verbot im Jahr 1930. Die Oberiuten forderten in ihrem Manifest u. a. die Gleichberechtigung verschiedener Kunstrichtungen nebeneinander.Die Verschmelzung des Lyrischen mit dem Phantastischen – so wie sie sich gegen die bornierte „Forderung nach einer allgemeinverständlichen Kunst“ wehrten, genauso wenig wollten die Oberiuten das futuristische Programm (vor allem die Zaum-Lautpoesie à la Kru?onych) einfach weiterspinnen…. Nicht mehr die Sprache selbst in ihrer morphologischen Struktur, nicht Silbe und Buchstabe, Laut und Klang waren ihr Thema, sondern die Erfindung einer „neuen“ Realität. Ja, sie waren Realisten, lyrisch-phantastische Kunst-Realisten.

Wer hat denn gesagt“, heißt es in ihrem Manifest vom Januar 1928, „daß die Alltagslogik für die Kunst verbindlich ist? ... Kunst hat ihre eigene Logik, sie zerstört nicht den Gegenstand, sondern hilft ihn zu erkennen.“

Daniil Ivanowitsch Charms:

"Ein Mensch mit dummem Gesicht aß ein Entrecôte, rülpste und starb. Die Kellner trugen ihn auf den Korridor hinaus, der zur Küche führte, legten ihn längs der Wand auf den Boden und deckten ihn mit einem schmutzigen Tischtuch zu."

Er schreibt Geschichten, die plötzlich und unvermittelt beginnen und oft schon nach wenigen Zeilen wieder enden (ein typisches Charms-Ende ist beispielsweise "Ach! Ich würde gerne weiterschreiben, aber das Tintenfass ist verschwunden.") Charms beschreibt, sehr sachlich, nur die äußeren, die sichtbaren und hörbaren Ereignisse, beteiligte Figuren sind nur Schablonen. Die unmöglichsten Dinge passieren völlig ohne Grund, und haben meist äußerst unlogische Auswirkungen, oder gar keine. In einer Geschichte z.B. durchschlägt ein fallender Stein die Schädeldecke eines Mannes; dieser meint aber nur, keine Sorge, das passiere ihm ständig, und setzt seelenruhig seine Einkäufe fort...Traditionelle Erzählgänge werden mit einem Kalauer zugesprengt, Dialoge laufen leer oder im Kreis, realistische Erwartungen werden grotesk durchkreuzt. www.zeit.de/1988/30/das-naerrische-treiben-des-todes/seite-3

Dadaismus und Oberiu
Vladimir D. Sedel'nik
: Besonders viele gemeinsame Merkmale ergibt ein Vergleich des (west) europäischen Dadaismus und der russischen „zaum“. Hier wie dort führt das Misstrauen gegenüber der Ausdruckskraft des Wortes, der Sprache dazu, der gedankenlos-automatischen Wahrnehmung von Kunst und Literatur Hindernisse entgegenzusetzen und den geheimnisvollen, transmentalen Sinn der „Sinnlosigkeit“ durchsetzen zu wollen. Daher rührt auch das gemeinsame Interesse von Aleksej Kru?enych und Hugo Ball für die Glossolalie, die unverständliche Sprache der religiösen Ekstase..Die Kunstsprache „zaum“ (sprich: sa-um) des Futuristen Velimir Chlebnikov  war, genauso wie die Lautgedichte für Hugo Ball oder Raoul Hausmann, ein Verfahren, in das Absolute vorzudringen, in den vorkulturellen Zustand zurückzukehren und auf dem zerstörten Fundament den Prozess der Wiedergeburt der Welt aufzufinden. Dada in Russland – Erdichtung oder Wirklichkeit? - von Dirk Kemp

Beispiele/Ergebnisse zu Aufgabenstellungen der Schreibwerkstatt
von günter neuenhofer, im Sept.2012

Zufällige Alltagswörter: Herumlungern/senkrecht/Bude/vergeblich/Weg/denken/dann/Abend/spielen/mögen

Satz aus den Wörtern: Die am Abend noch in ihrer Bude herumlungern, spielen, mögen dann vergeblich an einen senkrechten Weg denken.

Mesosticha


heruM

        lUngern

       Spielen

vergeblIch

   senKrecht

            Spielen

senkreCht

            Herum-

   lungeRn

     vergEblich
             In
             Buden
           d   n

             E
          W   g
         deNken

Akrosticha als Material

Vorname Hans:

Heute/
Arbeit/
Nacht/
Sicherheit

Formulierung eines Satzes aus den Wörtern: Heute Nacht arbeite ich sicher nicht.

Zuname:
Niemals/
Erde/
Urlaub/
Erbteil/
Not/
Hunger/
O
rgie/
Feuer/
Ende/
Richtschnur


Thematischer Satz aus den Wörtern des Akrostichons:

Mein Erbteil: Am Ende des Urlaubs wird weder Not noch Hunger, noch orgiastisches Erdenfeuer mir zur Richtschnur. Niemals!

Jetzt nicht

Jetzt doch nicht
Jetzt fliege ich dir ins Gehirn
Jetzt bin ich dein Sprachrohr
Jetzt bin ich dein Auge
Jetzt sagst du nichts mehr
Jetzt nicht doch

Ergänzungen zu vorgegebenen Formulierungen:

Sah ich dich? Beim Aufstehen, beim Ankleiden, am Frühstückstisch, hinter der Fensterscheibe, aus der Ferne, nach langer Zeit, nach meiner Wiedergeburt, in meinem neuen Leben, vom anderen Planeten, vor meinem inneren Auge, in meinem Herzen, außerhalb von Raum und Zeit, sah ich dich, immer manchmal unvergesslich.

Wenn du da wärest, mich bätest, bei dir zu bleiben, mir sagtest, jetzt streiten wir nicht mehr, bliebe ich bei dir.

Im/ Anfang /war /das /Wort :Im Anfang mag es gewesen sein, nicht von Anfang an, da war das unbekannte Eiland zwischen uns, nicht das sichtbare Bild, deine Augen mit Blick zu mir, bis wir endlich zur Sprache fanden und klärten auf alle Welt mit dem Wort, das uns aneinander band.


I. 

Dingsuche

Auf der Suche
nach
einem Gegenstand
der
zu beschreiben
ist
wird
mir das
Schreiben
bewusst
auf
Papier

II.

Dingverlust

Zwischen den Fingern
eine Mail geklemmt
vor den Augen
Herbst
in Nase und Mund
Brot mit Zwiebeln
bedenke ich schreibend
nicht mehr
wie es weitergeht


Papier

Das leichte
weiße Blatt
Papier

auf dem
eine Menge
Zeichen
mit Ereignissen
des Tages

der untere
Raum
leer

Brot

Der feste
gefleckte Brotlaib
in dem
die Zwiebelstücke
verteilt
gebräunt
nach dem Backen steckendas Messer
noch in der
Tischlade

Elfchen:

Weiß
ein Blatt
mit vielen Linien
ich schreibe mit Tinte
schwarz

Fest
die Brotkruste
mit den Zwiebeln
steckt mir im Hals
penetrant


Kunst mal sehen

mit breitmund sein kauen und schlucken sein zähne schlecht zunge wälzen nicht hunger das zwiebel nicht knobi von eklig schreiben hinaus in weiß papier von butterbrot nicht schenken meine Papier geben eklig tag alles klar



das kunstgedicht bei
ßt in die wört
er bevor  du le
ser es zwischen die zä
hne bekomm
st schlucken hil
ft nicht gegen den si
nnhunger es i
st nur für wiederkä
uermägen aufs ne
ue immer wied
er wie bei schafen


das blatt

dieses blatt sinnig beschrieben, ist
nicht die frage; sie ist
ist dieses blatt sinnig beschrieben

ist
dieses blatt sinnig beschrieben, ist
nicht die frage; sie ist
enthält dieses blatt sinnig beschriebenes.

Photo

mitten
auf dem papier
ein wort

in einer
weißen
schrift



Bewußtseinsstrom und innerer Monolog

Der Nachbar

da steht er wieder kann auch nicht anders werde warten gleich geht er mal sehen nicht wieder die alten Geschichten noch gestern er hat einen Rechtsanwalt genommen soll er er macht sich Probleme der Arme im Allgäu wer weiß nächste Woche ich würde nicht dahin fahren ein Regenloch aber mag sein

Wie lange willst du uns noch nerven? Ich kenne die Leute doch gar nicht. Aber ich will nicht unhöflich sein. Ruhig bleiben. Ich muss noch einkaufen und könnte dann noch bei K. reinschauen. Der erwartet sicherlich meinen baldigen Besuch. O, jetzt ist er wieder in seiner Jugend gelandet. Das hat er schon ein dutzend Mal erzählt. Es interessiert mich nicht. Dass er nicht darüber hinweg kommt! Schließlich hat er auch keinerlei Rücksicht genommen. Ah, da kommt ja S. mit dem Fahrrad. Das ist meine Chance. Ich gehe dann.

Variation zu S. Beckett

Religionslos

Wo geglaubt wird, darf man annehmen, sind Menschen. Soll das heißen, dass man, wenn man jene gelten lässt, auch den Glauben gelten lassen muss. Es zeigt sich. Zu vermeiden, so behaupte ich, ist der absolute Geist. Menschen mit Glauben, Menschen ohne Glauben, Religion ohne Menschen, unwichtig? Es geht nicht ohne. Irgendwann geht es ohne. Ich weiß nicht wann. Der einfache Weg, ihn verbieten, undenkbar, aber wünschbar. Ich bin also genötigt, das Undenkbare für die Zukunft zu wünschen. Unablässig wünschen Kreuzzüge irgendwo immer voller Glauben. Ach, nicht was es soll. Jawohl.

Variationen zu Inger Christensen

anfang

hier. hier war es nicht. hier hat es nicht begonnen. das nicht.
Nichts. Ende.

nichts endet
nichts beginnt
schluss
endet im nichts
nichts bleibt
alt ist nicht
unverändert
sprachlos
hier nicht
stumm
nie

ende

hier
hier nicht
hier ist es nicht
es ist nicht überall
es ist nicht überall ganz anders
es ist nicht überall ganz anders menschlich

aber es ist überall
es ist offensichtlich
es trifft
wenn der verstand
wenn der verstand ausgeschaltet
menschlich unkontrolliert hysterisch
menschlich zügellos wild
menschlich tobsüchtig überall
menschlich besessen
überall
im menschen hier
tierisch versessen
ohne scham vergessen
dass hier das
menschliche
nicht
ist

günter neuenhofer, Sept.1012

spurenträume

umgezogen bin ich
aufs land vom land nebenan
habe gewohnt ungezogen
in brennender distelhaft

unter der traufe gelegen
dachziegel gehalten
gewartet in kälte
mit gänsehautzittern

dir war das unbekannt
 
hand in hand zwischen schafen
zwischen den bäumen wären wir

hätten als maulwürfe gänge gegraben
frostig unter straßen zwischen häusern
 
nichts hätte der winter uns antun können
nach umzug
vom land

verzogen

Gartenträume

I.

Die Blätter der gelben Blüten sind regengetränkt. Nur wenige entgehen dem Zugriff der Nachtkälte, dem Druck der Windböen und der Nässe. Mag sein, dass einige noch stark genug sind, den Samen im Innern der Blüte zu entwickeln. Die meisten zeigen sich schmierig, formlos, vergangen. Die gelbe Farbe gibt noch eine Ahnung von der sommerlichen Sonnenkraft. Heruntergekommen, Verkommenheit vor meinen Augen. Schade. Dennoch mehr im Grün des Rasens und der Sträucher als unter ledrigen schwarzrandigen Blättern, abgestorben, erdig.

II.

Wie weggeworfene Blüten liegen sie im hinteren, schattigen Teil des Gartens. Traurig schauen Sie hoch, blinde Augen, nicht anders, doch sichtbar einigen Vorübergehenden, die neugierig stehen bleiben. Auch wegen der seltsamen Geräusche im Boden bleiben sie vielleicht stehen. Eine Bodenverschiebung, vielleicht ein Beben in der Oberschicht des Bodens, aber das hat es hier noch nie gegeben. Jedenfalls quillt aus dem Boden an einigen Stellen schwarze Erde hervor, immer wieder. Die Menschen erwarten natürlich etwas Besonderes. Sie warten, erwarten das Wunderbare, was sie sich seit langer Zeit gewünscht haben. Deshalb recken sie ihre Hälse, als R. einige Schritte in die dunkle Ecke des Gartens macht. Da, die gelben Punkte, die Lichter wie Sonnenflecken, wie glühende Kohlen. R. bückt sich, hebt die Hände hoch, dreht sich um und alle sehen es: zwei schwarze Bälle, aus denen ein Licht austritt, ein unsichtbares Licht, aber ein Licht, das die Umstehenden fühlen, einatmen. Es dringt warm in sie hinein, so dass sie die Augen schließen. Um sie herum öffnet sich der Boden, so glauben sie zu sehen, und Blumen wachsen heraus. Vielleicht glaubte jemand, er sei im Paradies und er sei von Engeln umgeben und er selbst tanze als Nymphe oder Elfe in einem Blumenparadies. So könnte eine Geschichte von glücklichen Menschen in einer neuen Welt beginnen, eine erträumte Menschheitsgeschichte. Jedenfalls ein lichter Tag in einer blindwütigen Zeit.

III.

nachtkalt trinken gelb die blätter regenverrauscht. hand häutet dir der morgen schafskalt meine gedanken. lass sie blöken in ihrem schafspelz frühsonne zum gegacker der hühner nach eilage ferner geschichten erdig im grünen wasser mit ledrig schwarzrandigem herbst
ein paradies

IV.
(Wortlose Wortkunstträume/in word bookshelf symbol7)

 

günter neuenhofer, im Oktober 2012