Kartoffelkultur

"Es ist die Kartoffel, mit der man das Leben webt", sagen die Aymara des Altiplano. Gerade an ihr lässt sich die Meisterschaft der andinen Pflanzenzucht zeigen: Aus einem Kraut mit winziger, etwa haselnussgroßer Wurzelknolle mit steifer Schale und wässerigem Aroma haben die Aymara mehrere hundert Sorten Kartoffeln verschiedenen Geschmacks und in allen Formen und Farben entwickelt. Sie entdeckten, dass eine durch Kreuzung der Blüten erreichte Sorte konstant gehalten werden kann, wenn man sie mit den Knollen vegetativ weitervermehrt.

In den frostbedrohten Hochlagen haben sie mehr Sorten gezüchtet als in den milderen Tälern. Die gegen Fröste resistenten "bitteren" Sorten der Puna sind unfruchtbar. Sie können sich nicht mehr durch Samen fortpflanzen und sind auf die Hilfe des Menschen angewiesen: Er muss die Knolle im Herbst aus dem Boden holen, sie im Haus vor den Winterfrösten schützen und im Frühjahr wieder für die Vermehrung pflanzen. So leben in den Hochanden die Bäuerinnen und die Kartoffeln in gegenseitiger Abhängigkeit; die Kartoffel "ist ebenso ein Artefakt des Menschen, wie der Grabstock".
Offenbar hat man keine Sorten züchten können, die "süß" (d.h. von geringem Glykoalkaloid-Gehalt) und frostresistent gleichzeitig sind. Da der Anbau der "süßen" Kartoffeln immer mit dem Risiko einer Missernte verbunden ist, gelten sie als "Luxus"-Sorten. Die eigentliche Ernährungsgrundlage bilden auf dem Altiplano deswegen die "bitteren".

Die Gefriertrocknung der Kartoffeln

Zudem sind Kartoffeln nur wenige Monate haltbar. Deshalb bedecken die Andenbauern in den Wintermonaten Juni/Juli einen ebenen Platz mit
trockenem "Ichu"-Gras, breiten die Kartoffeln darauf aus und lassen sie mehrere Nächte lang gefrieren. Wenn sie grau und runzelig werden, sind sie durch und durch gefroren. Anschließend tritt die ganze Familie mit den nackten Füssen auf den Knollen herum, reibt mit den Zehen die Schalen ab und presst so einen großen Teil des Saftes aus. Dann lässt man die Kartoffeln nochmals gefrieren und an der Sonne trocknen. Das Produkt, "Chuño", ist grau bis schwarz, unscheinbar hässlich und erinnert eher an zu leicht geratene Steine als an Kartoffeln.

Bei diesem Verfahren verlieren die Erdäpfel etwa 40% der unerwünschten Bitterstoffe, aber auch 18-30% der Proteine, viele Mineralsalze und Vitamine. Der Verlust an Nährwert scheint das Dilemma einer jeden Konservierung zu sein. Ein Teil wird jedoch bei der Herstellung von Cuño indirekt zurückgewonnen: Das mit Kartoffelsaft getränkte Gras verfüttert man dem Vieh.


Abb.: Weißer und schwarzer Chuño auf einem Marktstand

Chuños sind fast unbeschränkt haltbar und werden nicht von Motten, Käfern oder Mäusen befallen. Bevor man sie kocht, legt man sie tagelang in Wasser, das man mehrfach wechselt. Dann presst man sie gut aus, um die restlichen Bitterstoffe zu entfernen, und kocht sie in Wasser.
Neben den Chuños als Alltagsnahrung stellen die Bauern im Hochland aus Kartoffeln auch "Tunta" her: Nach dem ersten Einfrieren legen sie die Kartoffeln einen Monat lang in einen Bach und bedecken sie mit Gras, so "dass sie keine Sonne sehen". Dann pressen sie die Knollen vorsichtig aus und lassen sie trocknen. Tunta ist schneeweiß, federleicht, begehrt für Festmahlzeiten und genießt ein hohes Prestige.

Auch andere Knollen wie Oca, Papalisa und Maca werden teilweise wie Kartoffeln gefriergetrocknet. Dies ermöglicht, sie zu entbittern und zugleich Vorräte anzulegen. Dass Chuños nur noch etwa einen Drittel des ursprünglichen Kartoffelgewichts aufweisen, erleichtert den Austausch zwischen den Klimazonen erheblich. Deshalb wertete der Andenforscher Carl Troll die Entdeckung des Chuño-Verfahrens als ebenso wichtig für die Anden wie die Erfindung des Pfluges für Europa.

Trotz der Bedeutung der Chuños als Alltagsnahrung stehen die "süßen" Kartoffeln, die man frisch essen kann, in höherem Ansehen. Auch heute noch hängt das Prestige eines Bauern innerhalb der Gemeinde unter anderem davon ab, wieviele und welche der "süßen" Sorten er anbaut. Wer seinen Gästen nur die aus "bitteren" Kartoffeln hergestellten Chuños serviert, lässt es an der gebotenen Großzügigkeit fehlen. Bis zu einem gewissen Grad kann der Gast an den ihm vorgesetzten Kartoffeln ablesen, wie willkommen er ist, denn die verschiedenen Sorten unterliegen einer deutlichen Abstufung in ihrem sozialen Wert. Nicht nur aus Gründen der Arbeitskraftausnutzung und der deshalb notwendigen Vielfalt baut der Bauer möglichst viele Sorten an. Auch des Prestiges wegen versucht er ständig, sein Sortiment zu erweitern. z.B. durch Mink'a oder Tausch. Aber oft geben Familien, die seltenes Saatgut besitzen, nur ungern davon ab.

Die Kartoffel ist mehr als ein Hauptnahrungsmittel: Verwurzelt in den kargen Böden des Hochlands und den Seelen seiner Bewohner ist sie ein zentraler Teil der andinen Kultur. Vor der Kolonialzeit war eine gebräuchliche Zeiteinheit die Dauer, die ein Topf Kartoffeln benötigt, um gar zu werden. Von all den Knollenfrüchten der Anden ist sie die einzige, der man bei Anbau und Ernte viele Rituale widmet. Und heute noch wählt man vielerorts alle Jahre eine Art Kartoffel-Priester, der aufpasst, dass das Vieh nicht in die Felder eindringt, und der die Geister des Hagels und des Frostes beschwört, die Felder der Gemeinde zu verschonen." [a.a.O., S. 34 - 36]

Bilder von 38 Kartoffelsorten

Putsche, Carl Wilhelm Ernst <1765-1834>: Versuch einer Monographie der Kartoffeln; oder ausführliche Beschreibung der Kartoffeln nach ihrer Geschichte, Charakteristik, Kultur und Anwendung in Teutschland / bearbeiter von Carl Wilhelm Ernst Putsche und hrsg. von Friedrich Justin Bertuch.  -- Weimar, Landes-Industrie-Comptoire, 1819. -- 158 S. : Ill.

Abbildungen aus diesem Werk


Abb.: Kartoffelblüten


Abb.: Kartoffelblüten


Abb.: Frühkartoffel-Sorten


Abb.: Frühkartoffel-Sorten


Abb.: Spätkartoffel-Sorten


Abb.: Spätkartoffel-Sorten


Abb.: Spätkartoffel-Sorten


Abb.: Spätkartoffel-Sorten


Abb.: Spätkartoffel-Sorten

Bildquelle: Die Kartoffel : Geschichte und Zukunft einer Kulturpflanze / hrsg. von Helmut Ottenjahn ... -- Cloppenburg : Niedersächsisches Freilichtmuseum, ©1992. -- (Arbeit und Leben auf dem Lande ; 1). -- ISBN 3-923675-30-5. -- S. 49 - 52]

 

Aniceto Arce (1824, Tarija - 1906, Sucre) importiert aus London australische Eukalyptussamen für £35. Damit beginnt in Bolivien die Pflanzung von Eukalyptusbäumen.