7. Die Küstenregion

1. Kanton, 2. Hongkong, 3. Resümee

1. Kanton (Guangzhou)

Der berühmteste chinesische Dichter des 11. Jahrhunderts, Su Shi, schrieb über Kanton wie über eine ferne, unkultivierte Region.

Das Kuangtung-Mädchen

Keinen festen Platz auf dem Markt hat das Mädchen aus Kuangtung,
Wo es ihr grade gefällt, stellt sie ihre Körbe auf.
Drei oder viermal am Tag verändert sie manchmal den Standort.
Überall bietet zum Kauf Krabben sie an und Fisch.
Indigoblau ist ihr Rock, sie trägt keinen Strumpf an den Füßen.
Ach, wie übel sie riecht! Wie Affen riechen und Meerkatz!
Wer aber ist so vermessen, die Art ihres Landes zu schelten?
Wuchs doch in Bozhou einst Lüzhu, die Schöne, auf!

In Europa ist Kanton vor allem durch die beiden Opiumkriege bekannt geworden, durch die die Engländer die Chinesen zwangen, den Handel mit Opium zu erlauben und ihnen Freihandelszonen einzuräumen. Kanton wurde in diesen Kriegen bis 1856 weitgehend zerstört. Heute präsentiert es sich als moderne Stadt mit Hochhäusern und einigen schmalen Altstadtgassen voller Atmosphäre.

Nachdem wir Guilin mit dem Nachtzug verlassen haben, können wir bereits vormittags unsere Zimmer beziehen. Wir sehen durch unser Fenster auf eine imponierende Skyline. Mit einer supermodernen Metro mit Großraumwagen von Siemens-Adtrans mit Laufschrift und Durchsagen in Englisch gelangen wir in die Altstadt. Vorher hat uns Sandra die chinesischen Schriftzeichen für Metro beschrieben. Der Umgang mit den Metrotickets ist ähnlich umständlich wie mit den Bahnkarten. In der Metrostation muss man erst an einem Schalter Münzen kaufen, die dann entsprechend der Preiskategorie in einen Automaten geworfen werden. Anschließend werden diese Karten dann beim Betreten des Bahnsteigs gelocht und beim Verlassen des Bahnsteigs zum Öffnen des Ausgangs benutzt. In der Stadt drängen sich die Menschen, auf der Straße, in den riesigen Kaufhäusern und in einer 4stöckigen Superbuchhandlung und besonders in der autofreien Einkaufsstraße, in der noch alte weiße Häuser mit Säulengalerien und farbigen Glasfenstern an die alte Zeit erinnern.

Die Altstadt von Kanton

Wir suchen in der Altstadt vor allem nach dem legendären Qingping-Markt, auf dem die ungewöhnlichsten Nahrungsmittel angeboten werden. In den Läden liegen Tausendfüßler, Raupen, Schaben, große schwarze Fliegen, getrocknete Seepferdchen gegen Krebs und Erkältung, Käfer, Schlangenhäute, Geckos, große Säcke mit steinharten Baumpilzen, gemahlene Knochen eines Tigers gegen Rheuma, Gallenblasen von Bären. Wir staunen. Wie ist es möglich, diese Dinge schmackhaft zuzubereiten und zu essen ! Als wir in ein dreistöckiges Gebäude eintreten, sehen wir Geweihe, in größere Stücke und in kleine Scheiben geschnitten, gemahlen sollen sie bei Potenzproblemen helfen,

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phantastisch geformte Ginsengwurzeln hängen an den Wänden, Tierhufe, getrocknete Hundeläufe mit Krallen und riesige Mengen von getrockneten Penissen von Eseln, Hirschen und Hunden. Vieles können wir auch nicht identifizieren. Die Chinesen benutzen diese "Materialien" zur Steigerung der Potenz. In einer weiteren Straße werden lebendige Tiere verkauft, Enten, Wachteln, Perlhühner, Schlangen in allen Größen. Am Straßenrand sitzen Leute, die Riesenfrösche bei lebendigem Leibe aufschlitzen, die Eingeweide herausreißen und die Haut abziehen. In einer weiteren Straße werden Wasser-- und Erdschildkröten verkauft. Noch nie habe ich soviel verschiedene Arten von Schildkröten gesehen. Die Käufer kommen, drehen die Tiere hin und her, klopfen sie ab und werfen sie dann wieder in eine Ecke, um andere Tiere auf ihren Zustand zu prüfen. Von den Kantonesen wird gesagt, dass sie alles essen, was Beine hat, mit dem Rücken zum Himmel zeigt und kein Tisch ist. Manche Gassen haben viel Atmosphäre: Blumentöpfe und bunte Wäsche zwischen den Häusern, ein Friseur schneidet die Haare, Frauen lassen sich mit Fäden das Gesicht massieren und Haare entfernen. Die Sonne verzaubert die alten Häuser. Wir erinnern uns an Bilder aus Alt-Amsterdam.

2. Hongkong

1841 ein Fischerdorf mit 15 000 Einwohnern auf einer Felseninsel von der Größe Berlins mit tropischem Klima. Nach einer Gebietserweiterung umfasst die Kolonie mehr als 1000 Quadratkilometer mit 240 größtenteils unbewohnten Inseln. Heute 6,8 Mill Einwohner mit einem höheren Pro-Kopfeinkommen als England. 110 000 Import-Exportfirmen mit 540 000 Menschen (1995). 20 Fernsehsender, 15 Radiosender und 70 Zeitungen. Nach 150 Jahren britischer Kolonialherrschaft wurde Hongkong 1997 zwar mit dem kommunistischen China vereinigt, aber das bisherige wirtschaftliche, finanzielle, soziale und kulturelle System soll noch 50 Jahre erhalten bleiben. Das heißt: Rede- und Pressefreiheit, das Recht auf Freizügigkeit, auf freie Berufswahl und auf Privateigentum, Streikrecht, Versammlungs- und Glaubensfreiheit werden in einem Vertrag, der Joint Declaration, zwischen England und China garantiert. Der Hafen ist weiter Freihafen und ein separates Zollgebiet, in dem China keine Steuern erheben darf. Die Konvertierbarkeit des Hongkong-Dollars darf nicht beeinflusst werden. Der Leiter des Exekutivrates, der Nachfolger des britischen Gouverneurs, hat eine fast absolute Macht.

Make money -
der Spagat zwischen Kapitalismus und sozialistischer Marktwirtschaft

Ein Land - zwei Systeme:
"Reich werden ist ruhmvoll."

(Hu Yaobang)

Entsprechend dem Beschluss des ZKs der KP vom 22.12.78 soll die Hauptaufgabe der Partei vom politischen Kampf auf die wirtschaftliche Entwicklung verlagert werden. Eine Folge dieses Schwenks sind die 8000 Sonderzonen, besonders an der Küste von Guangdong und im Perlflussdelta nördlich von Hongkong. Nach der Beschreibung von W.v.Kemenade in seinem Buch "China AG" reihen sich hier endlos Textil-, Schuh- und Spielzeugfabriken, oft extrem verschmutzt, ohne Hygiene und Sicherheitsvorkehrungen. Hunderttausende Jugendliche arbeiten 10-15 Stunden an 6 oder 7 Tagen in der Woche, ohne Pause und ohne Krankenversicherung und Erholungsurlaub und ohne Kündigungsschutz. Nur einmal am Tag ist ein Toilettengang erlaubt. Überstunden sind Pflicht und werden oft nicht bezahlt. Nachts schlafen über 30 Menschen in einem Raum. Als 1993 in einer Puppenfabrik in Zhili ein Brand ausbricht, kommen 87 um und 51 werden verletzt, weil alle Türen und Fenster verschlossen sind. Das sind Zustände wie im frühkapitalistischen Europa.

Shenzhen, eine Sonderwirtschaftszone an der Nordgrenze zu Hongkong mit 327,5 Quadratkilometern, ist ebenfalls ein Beispiel für die dynamische wirtschaftliche Entwicklung Chinas. 1978 nur 25 000 Einwohner, die von Fisch und Reis leben. Heute 4 Mill. Einwohner in einer Stadt mit vielen Wolkenkratzern. 1500 Hersteller von PCs, 500 Softwarefirmen, die größte Fabrik der Welt für Maussteuergeräte mit 3500 Arbeitern, der weltgrößte Exporteur von Schuhen. 200 Forschungsunternehmen, die reichste Stadt Chinas. Dennoch verdienen die Arbeiter nur 1/10 von dem, was ein Arbeiter in Hongkong verdient.

Am nächsten Tag fahren wir mit dem Zug weiter in die ehemalige Kolonialstadt Hongkong, die 1997 nach 156 Jahren britischer Herrschaft wieder mit China vereinigt wurde. Jetzt haben wir das Jahr 2001, aber die Grenzkontrollen im Bahnhof sind schärfer als auf jedem Flughafen. Als wir an die Grenze zu Hongkong kommen, sehen wir hohe Mauern und Stacheldraht. Hongkong bleibt als Sonderverwaltungszone der Volksrepublik China ein wohlbehütetes Experiment.

Wir haben den Eindruck, wir betreten ein verfeindetes Land. Die chinesische Währung wird ungültig, wir müssen unsere Yuan in Hongkong-Dollar umtauschen. Auf der Straße haben wir nicht mehr Rechtsverkehr, sondern Linksverkehr. Aber diese Eindrücke sind wohl sehr beschränkt, wenn man liest, dass täglich über 20 000 LKWs auf einer sechsspurigen Autobahn über die Grenze fahren, die Schnellbahnen alle 15 Minuten eintreffen und an 20 Schaltern die Pässe kontrolliert werden.

Von unserem Hotelzimmer im 15.Stock blicken wir auf die Skyline der Stadtteile Kowloon, das auf dem Festland liegt, und auf Victoria, die alte Felseninsel Hongkong. Eine Fähre und eine Metro verbinden im Minutentakt die beiden Seiten. Als wir auf der anderen Seite ankommen, fallen uns die vielen Menschen auf, die überall herumsitzen, auf den Gehwegen, auf den Plätzen, auf der Straße, unter sich Zeitungen oder Plastikfolien. Sie scheinen auf etwas zu warten. Viele haben neben sich gefüllte Einkaufstüten, manche essen, einige singen oder spielen, einige lesen in einem Buch. Ein ohrenbetäubender Lärm schlägt uns entgegen. Zweistöckige Busse, kreischende Straßenbahnen, Luxuslimousinen. Als wir die Treppenaufgänge zu den höher gelegenen Häusern hochsteigen, sehen wir auch dort überall Menschen, in den leeren Markthallen und natürlich unter den wenigen Bäumen neben der St.John`s Cathedral. Endlich geht uns ein Licht auf. Es ist Sonntag. Und die Tausenden von Menschen sind Hausangestellte, meist Philipinos, die hier ihre freien Stunden in der "Natur" verbringen. In Lärm und Hitze auf Beton und Asphalt! Wir lesen später, dass in Hongkong auf einem Quadratkilometer 200 000 Menschen in den Hochhäusern leben, in Paris sind es nur 20 000 und in Berlin 10 000. Es ist unglaublich, dass solche Menschenmassen hier vertikal übereinander leben. Zwischen den Wolkenkratzern stehen noch riesige Baukräne, die helfen, die letzen Freiflächen zuzubauen oder die Hochhäuser durch noch höhere Gebäude zu ersetzen. Das dritthöchste Gebäude der Welt und mit 800 m die längste Rolltreppe der Welt stehen hier. Die Treppe befördert täglich 30 000 Pendler aus den Wohntürmen hinunter zu ihren Büros und wieder hinauf. Der Wohnraum ist rar und teuer. In Toplagen kosten kleinere Apartments bis zu 20 000 US-Dollar pro Quadratmeter. Für Arme gibt es abschließbare Gittercontainer von der Größe eines Bettes, die neben- und aufeinander gestapelt werden.

In Hongkong besitzen schon 67,4 % der Menschen ein Handy. In diesem Sommer 2001 hat China Amerika in der absoluten Zahl der Mobiltelefonbesitzer überholt, obwohl im April erst 6 % der Menschen ein Handy besaßen. Nach dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation in diesem Jahr und der Austragung der olympischen Spiele 2008 erwarten die Fachleute ein beachtliches Wirtschaftswachstum, das andere asiatische Länder als eine Bedrohung empfinden. Allein die weltweiten Ausfuhren Chinas bei Bekleidung soll in den nächsten Jahren auf über 47 % steigen.

Die mystische Atmosphäre des Man-Mo-Tempels

Riesige Räucherspiralen, die von der Decke herunterhängen, hüllen die Räume in Rauchwolken. An den Wänden stehen die schwarzen Hauptgötter Man und Mo. Das sind die kantonesischen Namen für Wenchang, den Gott der Literatur, dargestellt mit einem Pinsel in der Hand, und Guandi, den Gott des Krieges und der Gerechtigkeit, dargestellt mit einem Schwert in der Hand. In großen Bronzebecken werden falsche Geldscheine und Goldpapier verbrannt. Vor den taoistischen und buddhistischen Götterstatuen steht ein Chinese in mittlerem Alter, wirft zwei gekrümmte Hölzer und schüttelt in einem Behälter Stäbchen mit einer Nummer, bis eins herausfällt. Das trägt er dann zum Tempeldiener und Wahrsager, der ihm aus einem Buch ein Horoskop vorliest und in Hinblick auf seine berufliche Laufbahn und auf eine neue Partnerschaft deutet. Eine Mutter zeigt ihrem Kind, wie es mit einem Kotau zu beten habe. Andere halten Bündel brennender Räucherstäbchen in den erhobenen Händen, verneigen sich immer wieder und murmeln Gebete. Alle sind beschäftigt und stören sich nicht an Touristen, die reden und fotografieren. In einem Nebengebäude gibt es mehrere Räume mit Ahnentafeln und Urnenöffnungen in den Wänden. Die Preise sind nach Lage und Art der Präsentation gestaffelt. Die teuersten Plätze liegen in der Mitte, wahrscheinlich mit dem besten Feng-shui. Für rote Aufkleber und Fotos sind Aufschläge zu bezahlen, wie eine Preisliste ausweist.

 

3. Resümee

Wir haben ein China gesucht, das es nicht mehr gibt. Unsere Bilder von Land und Leute mussten wir gründlich korrigieren.

China ist nicht mehr maoistisch, in der Praxis kaum noch kommunistisch. Mao sagte zu seinem amerikanischen Biographen Edgar Snow: es könnte sein,
"dass die Jugend die Revolution verleugnet, Frieden mit dem Imperialismus macht, die überlebenden Anhänger Chiang Kai-sheks auf das Festland zurückholt und gemeinsame Sache macht mit den verhältnismäßig wenigen im Land noch vorhandenen Konterrevolutionären. In tausend Jahren werden vielleicht alle, auch Marx, Engels und Lenin ziemlich absurd und lächerlich erscheinen."
Inzwischen sind alle Befürchtungen Maos eingetroffen, nicht nach tausend Jahren, sondern schon wenige Jahrzehnte nach seinem Tod.

Die Chinesen kommen aus einem anderen Kulturkreis. Sie haben nicht wie die Europäer die Menschenrechte und die individuelle Freiheit entwickelt, sondern ihre Werte gründen auf den Familienclans und auf der konfuzianischen Unterordnung unter die Autorität älterer Familienmitglieder. Freiheit heißt für sie, in Ruhe gelassen werden und Geld verdienen dürfen. Individualismus wird als das Grundübel für alle Dekadenzerscheinungen angesehen.

Daneben hat sich ein Egoismus entwickelt, der in anderen Menschen nur Konkurrenten sieht. Wenn man bedenkt, dass die meisten Chinesen als Einzelkinder groß werden, die, vergöttert und verhätschelt, immer ihren Willen bekommen, dann ist die Rücksichtslosigkeit in den Bussen oder auf der Straße verständlich.

Die Chinareise war keine Reise in ein paradiesisches Land mit freundlichen Menschen wie unsere Reise nach Myanmar. Sie war auch keine Reise in ein kommunistisches Land mit Millionen gleichgeschalteter Menschen. Die Chinareise war vor allem eine Begegnung mit einer durch und durch zwiespältigen Gesellschaft, die sich in einer beängstigenden Geschwindigkeit weiterentwickelt und ihre traditionellen und kommunistischen Wertvorstellungen verändert. Die Entwicklungsprozesse in China, ihre Widersprüchlichkeit und ihre geschichtliche Herkunft haben mich auf Grund ihrer ungewöhnlichen Dynamik mehr beeindruckt und beschäftigt, als Begegnungen mit anderen Kulturen, dem Hinduismus in Indien und auf Bali, dem Buddhismus in Nepal, Ladakh und Myanmar und der Mayakultur in Guatemala und Mexiko. Eine weitere Reise in andere Regionen Chinas und nach Taiwan sollen folgen, um die Eindrücke und Einsichten der ersten Reise zu überprüfen und vervollständigen.

Die paradoxe Situation Chinas wird in dem Bekenntnis von Gu Cheng nicht nur im Hinblick auf die trostlose Kulturrevolution und die Unterdrückung demokratischer Bestrebungen durch das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens zum Ausdruck gebracht, sondern auch im Hinblick auf den Zustand des heutigen China.

Eine Generation

Die schwarze Nacht gab mir schwarze Augen.
Doch ich suche mit ihnen das Licht
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( 1956-1993)

 

Zur Übersicht 

Literaturliste:

China - Ein Selbstporträt, 1998, Logophon Verlag
Li Zehon: Der Weg des Schönen, Herder Verlag
W.v.Kemenade: China AG,
A.Guder: Briefe aus China. www.andreasguder.keyspace.de/briefe