Dalits und Dharma

Von James Massey

Rev. Dr. habil. James Massey ist Mitglied der Nationalen Kommission für Minderheiten der Regierung von Indien. Dharma, ein Konzept der ältesten heiligen Schriften der Hindus, beschreibt die Pflichten, die Menschen in ihrem jeweiligen Stand in der Gesellschaft zu erfüllen haben. Massey führt in die klassische religiöse Literatur ein und erörtert dann den Platz, die den Schriften gemäß den Dalits eingeräumt wurde. Er identifiziert darin eine Ideologie, die es erlaubt, die ehemaligen Kastenlosen, die Dalits, die sich selbst heute die "Zerbrochenen" und "Niedergetretenen" nennen, in Abhängigkeit und unter Kontrolle zu halten.

Um mein Referat logischer aufbauen zu können, möchte ich zuerst den zweiten Teil "dharma" behandeln und dann zu den Dalits übergehen. Denn historisch gesehen, geht das Thema Dalits aus dem des dharma hervor. Tatsächlich ist es das Konzept dharma, das dem Thema Dalits in Indien zum Leben verholfen hat. Denn dharma ist das Mittel, mit dem die Gegner der Dalits ihnen und ihrer Psyche ihr Weltbild aufdrängen und das die Dalits dazu geführt hat, den ihnen zugeschriebenen inferioren Status als Bestandteil einer natürlichen Ordnung zu akzeptieren. Deshalb schlage ich vor, im ersten Teil meines Referats Bedeutung, Umfang und Implikation des dharma zu behandeln und im zweiten Teil die Stellung der Dalits in diesem Rahmen.

I. Bedeutung, Reichweite und Durchsetzung des Dharma-Konzepts

Dharma leitet sich ethymologisch von der Wurzel dhr ab. Sie bedeutet: "unterstützen", "unterhalten" oder "aufrechterhalten" (Apte 1989, 521). In diesem Sinne wird Dharma auch in einigen der späteren religiösen Traditionen, die Buddhisten und Sikhs miteinschließen (Kahan Singh 1981, 662), gebraucht. Was die Gegenwart betrifft, wird unser Thema andererseits heute auch dazu benutzt, um sozial-ethische Gesetze und Verpflichtungen des Menschen zu beschreiben (Klostermaier 1989,47). Die Grundlage liegt noch heute in den alten Texten der Hindu-Religion, "den Gesetzen des Manu", die auch als Manusmrti bekannt sind. Gemäß dem Manusmrti ist die Quelle des Dharma folgende:

Die gesamte Schrift des Veda ist die erste Quelle des heiligen Gesetzes, gefolgt von der Tradition und dem tugendhaften Verhalten derjenigen, die das Veda genauer kennen, und danach auch (das Wissen um) die Gebräuche der heiligen Männer und zuletzt der Selbstgewissheit (II: 6).

Hierbei müssen wir uns daran erinnern, dass die Hindu-Schriften in zwei Hauptklassen von Literatur eingeteilt werden, bekannt als sruti und smrti. Sruti bedeutet "hören". Hierbei ist impliziert, dass die heiligen Männer die göttliche Offenbarung oder Wahrheit direkt gehört haben. Die Sruti-Schriften bilden die Vedas, die älteste Überlieferung der heiligen Hindu-Schriften. Die zweite Klasse der Literatur, smrti, bedeutet wörtlich "erinnern". Sie enthält die erinnerte Erfahrung der heiligen Männer. In Wirklichkeit interpretiert smrti detailliert die Bedeutung des sruti Kanons. Dies geschieht durch Geschichten, Prosaerzählungen, Gedichte und Informationen über die Vergangenheit. Beschrieben werden alle Lebensregeln, im Detail die Pflichten (dharma) aller Kategorien von Menschen wie Ehemann, Ehefrau, Könige, Herrscher etc. Im Detail werden die Pflichten und der Lebensstil einer jeden Kaste oder Farbe (varna) festgelegt. Dharma oder die Pflichten für Kasten oder Farben sind die älteste Überlieferung. die wir in der sruti-Literatur finden. Doch die Regeln, die für dieses System abgeleitet werden, erschließen sich in der sinrti-Literatur. Der älteste Kern der sruti-Literatur ist die Rigveda. Die Rigveda-Schrift behandelt die vier ursprünglichen Kasten oder Farben: die Brahmanen, (Priester mit zugeordneter weißer Farbe), die Ksatriya (Krieger mit roter Farbe), die Vaisya (Kaufleute mit gelber Farbe) und die Sudra, die dienende Kaste mit schwarzer Farbe. Wie die Rigveda berichtet, sind diese vier Kasten alle aus dem Körper des Schöpfergottes Purusa erschaffen worden:

Der Brahmane war sein Mund,

aus seinen Armen wurden die Ksatriya gemacht.

Seine Hüften wurden zu den Vaisyas,

aus seinen Füßen die Südras. (10:90:12)

Die Rigveda-Erzählung endet mit der Erschaffung der vier Kasten. Wie jedoch die vier Kasten funktionieren oder ihre Pflichten erfüllen sollen, dazu gibt das smrti Auskunft und über die damit verbundenen Regeln. Diese Pflichten und Regeln sind als dharma bekannt. Unter allen Schriften des smrti gelten die "Gesetze von Manu" (Manusmrti) als das authentischste Gesetzbuch, das den Hindus Vorbilder und Lebensregeln vorgibt. Dabei wird betont, dass die im dharma vorgeschriebenen Pflichten im Leben zu erfüllen sind, und das dharma wird zum eigentlichen Zweck des menschlichen Lebens. Dazu führt das Manusmrti aus:

Der Mann, der den vorgeschriebenen Gesetzen

in den offenbarten Texten und in der heiligen Tradition gehorcht,

erringt in dieser Welt Ruhm und nach dem Tod unübertroffenen Segen. (II: 9)

Interessanterweise steckt das Manusmrti auch den geographischen Rahmen des dharma in den folgenden Versen ab:

Das Land, das die Götter geschaffen haben und das zwischen den heiligen Flüssen Saraswati und Drishhadvati liegt, nannten (die Weisen) Brahmavarta. Die Sitte, die (seit unvorstellbaren Zeiten) in regulärer Sukzession unter den (vier Haupt-) Kasten (varna) und unter den vermischten (Rassen) dieses Landes weitergegeben wurde, wird das Verhalten tugendhafter Männer genannt. Von einem Brahmanen, der in diesem Land geboren wurde, sollen alle Menschen auf Erden ihre verschiedenen Gebräuche lernen... Doch (der Trakt) zwischen den beiden (gerade genannten) Bergen der sich vom östlichen bis zum westlichen Ozean erstreckt, nennen die Weisen Aryavarta (das Land der Aryans). Dieses Land, das die schwarze Antilope durchzieht, muss man kennen, um für die Durchführung von Riten tauglich zu sein. (Der Trakt), der sich wiederum von diesem unterscheidet, (ist) das Land der Mlekkhas (der Barbaren). Wiedergeborene Männer sollen anstreben, in den (genannten) Ländern zu leben;doch ein sudra, der sich um seinen Lebensunterhalt ängstigt, mag sich überall niederlassen. So ist euch in bündiger Schlüsse der Ursprung des heiligen Gesetzes beschrieben und der Ursprung des Universums. Lernt nun die Pflichten der Kasten (varna). (II: 17,18,20,22-25).

Aus der bis jetzt vorgelegten Erörterung und aus den verschiedenen zitierten Versen des Manusmrti geht klar hervor, dass das Konzept des dharma gemäß den alten Hindutexten (sinrti) die soziale Klassifizierung und Teilung der Gesellschaft in vier Kasten oder varnas sowie die verschiedenen Funktionen und Pflichten einschloss, die diese Kasten zu erfüllen hatten. Sowohl die Rigveda wie spätere Texte heben noch einen weiteren Punkt deutlich hervor, nämlich dass die Zugehörigkeit zu den Kasten oder varnas durch Geburt geregelt war. Die vier Kasten wurden von Gott geschaffen, und die Mitglieder einer jeden sollten getreu die ihnen von der Kaste zugeschriebenen Pflichten erfüllen. Dieses Faktum wurde später in der Bhagawad Gita bestätigt. Noch heute sind die Bedeutung, die Reichweite und die Implikation des dharma-Konzepts, wie im "Gesetz des Manu" festgelegt, ein grundlegender Bestandteil in Glauben und Praxis der Hindus - wie durch alle Zeiten. Diese Schlussfolgerung führt uns zum zweiten Teil meines Vortrags, in dem wir den Platz der Dalits im dharma betrachten werden.

II. Die Stellung der Dalits im Dharma-Konzept

Wie oben ausgeführt, basieren die Funktionen der indischen Gesellschaft im allgemeinen auf den Gesetzen und Regulierungen, wie sie in den verschiedenen Dharma Shastras (Schriften) der alten Hindu-Religion niedergelegt sind, besonders in den Gesetzen des Manu. Die oben zitierten Verse aus dem Manusmrti (2:18,23) sprechen von vermischten Rassen und den Mlekkhas (Barbaren), die in Wirklichkeit diejenigen Menschen sind, die außerhalb der vier Kasten oder varnas stehen. Interessanterweise spricht die Rigveda definitiv von zwei Menschengruppen: von den aryans (zusammengesetzt aus den vier Kasten) und den dasyus (Leuten, die außerhalb des Gebiets des Kastensystems leben). Die dasyus sind genau diejenigen, die sich in unserer Zeit selbst als Dalits bezeichnen (Massey 1995, 24-30). Diese Gruppe stellt die frühesten Bewohner Indiens dar, doch beschreibt sie das Manusmrti interessanterweise als Menschen, die durch Mischehen der vier Kasten oder Farben entstanden sind. Das Gesetz des Mann enthält verschiedene Details solcher durch Mischehen entstandenen Gruppen. Es gibt zwei Hauptabteilungen solcher Mischehen: 1. anuloma. Bei ihnen gehört der männliche Partner zu den oberen Kasten, der weibliche zu den unteren; 2. pratiloma. Bei ihnen gehört der männliche Partner zu den unteren Kasten, der weibliche zu den oberen. Die Nachkommen der pratiloma hatten die niedrigste Stellung inne. Die meist verhasstesten Gruppen waren gemäß dem Manusmrti Chandala und Sapaka, Nachkommen eines männlichen Sudra und einer Brahmahnenfrau bzw. eines männlichen Chandala und einer weiblichen Pukkasa. Ihren nichtmenschlichen Status umschreibt das Manusmrti (10, 51,52) in folgenden Worten:

Die Behausung der Chandalas und Cavpacas (sapaka) sollten außerhalb des Dorfes sein; ihnen sollte kein Geschirr (apapatra) zugestanden werden; ihr Eigentum besteht aus Hunden und Eseln. Ihre Kleider sollten Bekleidung von Toten sein und ihr Schmuck aus Eisen. Ihr Essen nehmen sollten sie von zerbrochenen Tellern; und sie müssen ständig umher wandern.

Dieses eine Beispiel aus dem Manusmrti reicht schon aus, um die Stellung der Dalits im dharma aufzuzeigen. Das Manusmrti fand seine endgültige schriftliche Form um 700 n.Chr. Doch noch im Alheruni's "India" erfahren wir, dass diese Bedingungen noch voll im 12. Jahrh. praktiziert wurden (Sachau 1989, 101). Es ist wahr, dass einige soziale Reformer, die zu Kasten-Hindus gehörten, während des 19. und 20. Jahrhunderts Anstrengungen unternommen haben, um dharma neu zu interpretieren. Zu ihnen gehören Rain Mohan Roy, Swami Dayananda Saraswati und Mahatma Gandhi. Ram Mohan Roy predigte zum Beispiel, dass alle Menschen jeder Kaste vollen Zugang zu dem einen Wahren Gott haben, doch soziale Gleichberechtigung war kein Teil seiner Lehre. Swami Dayananda ging einen Schritt weiter und betonte die Notwendigkeit, Kaste durch Qualität und nicht durch Geburt neu zu interpretieren. Er favorisierte eine Interpretation von dharma in der Tradition der varna Kategorien, die jedoch nicht auf dem Prinzip jati (Hierarchie durch Unterwerfung) gegründet sein sollte. Mahatma Gandhi bot sein Bestes und bekämpfte das Übel der Unberührbarkeit, doch blieb das varna System auch bei ihm Bestandteil der Hindu-Religion (Lipner 1994, 118-120). Für Mahatma Gandhi galt:

Varna und Ashrama sind Institutionen, die mit Kasten nichts zu tun haben. Das Varna-Gesetz lehrt uns, dass ein jeder sein Brot nach der Berufung der Vorfahren verdienen soll. Das Varna-Gesetz definiert nicht unsere Rechte, sondern unsere Pflichten. Es bezieht sich notwendigerweise auf eine Berufung, die der Wohlfahrt der Menschheit förderlich ist, und auf nichts anderes. Es folgt daraus auch, dass es keine Berufung gibt, die zu niedrig oder zu hoch wäre. Alle sind gut, rechtmäßig und absolut gleich im Status. Die Berufung eines Brahmanen, eines spirituellen Lehrers, und die eines Straßenkehrers sind gleich, und die getreue Ausübung hat den gleichen Verdienst vor Gott und wird, so scheint es, auch ihre gleiche Belohnung vor den Menschen haben. (Harjan, 1936 in Dr. Baba Sahib Ambedkar Writings and Speeches Vol. 1, 1979, 83)

Es ist interessant, dass Mahatma Gandhi das varna System oder die Kastenzugehörigkeit durch Geburt aufrecht erhielt, indem er den Ausdruck "Berufung der Vorfahren" benutzte. Er bestätigte ebenso, dass diese Teilung "der Wohlfahrt der Menschheit"diene. Doch er fügte einen neuen Aspekt hinzu, indem er das Amt eines Brahmanen und eines Straßenkehrers auf die gleiche Stufe stellte. Dies sind gute Gedanken und Worte, aber sie sind noch immer weit von der Akzeptanz durch die Lebensrealität der Menschen entfernt, die dem Gesetz des Manu folgen.

Tatsächlich schrieb Mahatma Gandhi diese Gedanken als Antwort auf eine schriftliche Botschaft von Dr. Ambedkar auf, der sich zum Thema der "Abschaffüng der Kaste" geäussert hatte. In dieser Botschaft stellte Ambedkar klar heraus, dass nach dem Gesetz des Manu jeder Hindu entweder Veda, Smrti oder Sadachar (dharma) erfüllen müsse. Er sagt in Bezug auf dharma:

Aus diesem folgt, dass das Sadachar, sei es dharma in Übereinstimmung mit den Schriften oder in Widerspruch zu ihnen, befolgt werden muss. Doch was bedeutet Sadachar? Wenn man annimmt, dass Sadachar gute und gerechte Handlungen bedeutet, Handlungen von guten und aufrichtigen Menschen, befindet man sich völlig im Irrtum. Sadachar bedeutet nicht gute Handlungen oder Handlungen von guten Menschen, sondern vielmehr die alte Sitte von gut oder schlecht ... Dass dharma für einen Hindu Gebote und Verbote bedeuten, geht deutlich daraus hervor, wie der Begriff dharma in den Vedas, den Smrtis und von ihren Kommentatoren verstanden wird. Der Begriff dharma im Gebrauch der Vedas bedeutet in den meisten Fällen religiöse Vorschriften oder Riten. Selbst Jaimini definiert in seiner Purva-Mimansa dharma als "wünschenswertes Ziel oder Ergebnis, die durch ungerechte vedische Textpassagen angezeigt sind". Um es in klare Worte zufassen: Was die Hindus Religion nennen, ist in Wirklichkeit Gesetz oder bestenfalls legalisierte Klassenethik. Ich weigere mich offen, diesen Code von Vorschriften als Religion zu bezeichnen. Das böse Faktum eines solchen Codes von Vorschriften, die man fälschlicherweise Menschen als Religion darstellt, ist die Tendenz, moralisches Leben jeglicher Freiheit und Spontaneität zu berauben und Religion auf mehr oder weniger ängstliche und unterwürfige Konformität zu reduzieren, die von außen durch Regeln auferlegt wird. In diesem System gibt es keine Loyalität gegenüber Idealen, nur Konformität in Bezug auf Befehle. Das schlimmste Übel gestern, heute und für immer (Writings and Speeches Vol.1, 72- 73).

Diese Gedanken von Dr. Ambedkar verdeutlichen die Position der Dalits in Bezug auf das dharma in starkem Maß. Er beschreibt auch, dass das System, einmal ins Leben gerufen, rigider wurde und dass man durch eine simple Reform keine Änderung herbeiführen kann. Wirklicher Wandel kann laut Dr. Ambedkar nur durch die völlige Vernichtung des Systems zustande kommen. Auch andere bestätigen diese Wahrheit über das dharma. Zum Beispiel sagt Prof. Ram Ahuja bei seiner Ausführung über die Stellung der "Registrierten Kasten" (Dalits) in der frühen Literatur des Hinduismus:

Die Hindu-Literatur betont die Erlösung durch Hingabe an eine Gottheit. Die Idee des kharma (Taten) und das Konzept des dharma waren eine geeignete Ideologie, um die unteren Kasten (Dalits) unter Kontrolle zu halten. Es wird argumentiert, dass sie zwar in diesem Leben leiden mögen, dass jedoch die Befolgung des dharma ihnen zum Nutzen in ihrem nächsten Leben gereicht. (Ahuja, 1993 363)

Mit diesen Worten von Prof. Ahuja möchte ich meinen Vortrag über "Dalits und Dharma" beschließen.

Ausgewählte Bibliographie

1. Apte' Vaman Shivaram: The Practical Sanskrit-English Dictionary. Delhi 1989

2. Bhai Kahan Singh: Mahan Kagh (in Panjabi), Encyclopaedia of Sikh Literature. Patalia 1981

3. Griffith, Ralph T. H.: The Hymns of the Rigveda. Delhi 1986

4. Buhler, G.: The Laws of Manu. Delhi 1988

5. Sachau, Dr. Edward C. (Ed): Alberuni's India. Volumes I and II, New Delhi, 1989 (reprint)

6. Dr. Babasaheb Ambedkar: Writings and Speeches, Vol. 1, compiled by Vasant Moon. Bombay

1989

7. Klostermaier, Klaus K.: A Survey of Hinduism. Delhi 1990

8. Lipner, Julius: Hindus, Their Religious Beliefs and Practices. London 1994

9. Massey, James: Dalits in India. New Delhi 1995

Übersetzung: R. Freise

[Quelle: EMS, Informationsbrief 3/1999, S. 1-4]