9. Die Mysterien von Traktok und Chemre

Traktok ( Tagthog, Brag-thog, Thak-Thak), ein Kloster der ältesten lamaistischen Sekte der Nyingmapa

In der Nacht bin ich in unserem guten, aber alten Hotel am ganzen Körper zerstochen worden. Die Beißstellen jucken wie Flohstiche. Ich erinnere mich an die Flöhe, die mich im Jemen bei der Übernachtung in Privatquartieren zerbissen hatten. Im Bett töte ich etwa 30 Tierchen, aber am Fenstervorhang sitzen noch hunderte. Der Haustierspezialist meint, sie kommen von draußen von den Blumen, und verspricht bis zum Abend alle zu vernichten.
Wir machen uns auf den Weg zu den Mysterienspielen im Kloster Traktok, etwas abseits gelegen an der Karawanenroute durchs Nubratal ins Tarimbecken, wo der Begründer des tantrischen Buddhismus in einer Höhle meditierte. Die Tänze der 50 Mönche, die hier leben, gefallen uns weitaus besser als die von Phyang. Viele Einheimische und Mönche aus anderen Klöstern haben sich hier eingefunden. Der Inhalt der Tänze ist der Sieg des Padmasambhava über die einheimischen Kulte der Ur- und Bönreligion.


Padmamaske

Alle Gefährten des Padma, der als Magier den tantrischen Buddhismus von Nordindien in die Himalayaländer brachte, und die überwundenen Dämonen treten in Masken auf. Eine lange Prozession von exotischen Gestalten zieht an uns vorbei. Die Begleitung durch volkstümliche Trommel- und Oboenbegleitung fehlt. Die Zerstückelung des Körpers als Symbol des Bösen wird zurückhaltender, fast unsichtbar inszeniert. Die Besonderheit des Klosters ist die dunkle Meditationshöhle des Padmasambhava, an deren Decke überall Geldscheine hängen. Das Schwitzwasser an der Decke der Höhle soll sogar als göttlicher Nektar gesammelt werden. Noch uriger ist eine Küchenhöhle, in der Frauen Buttertee über einem großen Lehmofen zubereiten.
Auf der 1 1/2 stündigen Fahrt zurück nach Leh besuchen wir unterwegs ein Volksfest. Laute und schrille Trommeln und Oboen machen uns auf dieses Ereignis aufmerksam. Die festlich geschmückten Frauen tanzen ihre Zeitlupentänze mit leichten Drehungen des Oberkörpers und der Hände. Die Langsamkeit der Bewegungen ist fast unglaublich, teilweise werden die Füße nur zentimeterweise vor- und zurückgeschoben, ähnlich wie in Bhutan. Währenddessen sind die Männer mit dem Bogenschießen beschäftigt. Die Entfernung zum Ziel beträgt nur 10-15 m, nicht wie in Bhutan 100 m. Auch die Bögen sind recht einfach. In Bhutan hatten die Männer meist hochwertige, professionelle Fiberglasbögen.

Kloster Chemre ( lCe-lde, lCimgre, Cimray )

Die Besichtigung des Klosters Chemre ist noch einmal ein Höhepunkt der Reise. Auf einem Felsberg am Rande der breiten und fruchtbaren Indusebene gelegen wirkt der Klosterfels mit den ineinander verschachtelten Mönchshäusern und den steilen Treppen wie ein ligurisches Bergdorf. Eingestürzte Mauern, Löcher in bewohnten Häusern, Gerümpel, Misthaufen, kleine und mehrstöckige Häuschen für 300 Mönche. Die Hauptgebäude, verwinkelt, auf verschiedenen Ebenen gebaut, die durch steile Leitertreppen miteinander verbunden sind, liegen auf der höchsten Stelle, hoch über den Terrassenfeldern des Tals.

Die Wandmalereien und Skulpturen im Innern zeigen immer wieder die Vereinigung eines Gottes mit der Dakini, ein Ausdruck des Gedankens der Polaritätenvereinigung.

Der Opfer- und Todesgedanke zeigt sich in den Darstellungen des Leichenackers: Häute verschiedener Lebewesen hängen an Leinen, die Innereien werden von Vögeln weggetragen, die Dämonen halten ein weißes, blutendes Herz. Einer beißt hinein. Ein Dämonenkörper ist ganz mit Augen bedeckt. Einzelne Augen bilden Dekorationen auf Juwelenschalen. Immer wieder wird gezeigt, wie Menschen zertreten werden. Ein riesiger Donnerkeil dringt in die Brust eines Menschen ein, so dass das Blut heraus spritzt. Auch Buddha wird hier zusammen mit einer Frau gezeigt. Ungewöhnlich ist auch die nackte Darstellung des Padmasambhava in Meditationshaltung. Den Höhepunkt der makabren Präsentationen finden wir an der Außenwand des Gonkhang.

Hier hängen zwei große, ausgestopfte Ziegen mit mehreren weißen Ehrenschals geschmückt. Früher wurden bei bestimmten Ritualen Ziegen geschlachtet, jetzt stehen die ausgestopften stellvertretend für die lebendigen. Somit erscheint das Tier- und Menschenopfer nur noch in bildlicher Form. Der Buddhismus hat das Töten als Wirklichkeitsform verbannt, das Opfern durch Töten wird nur symbolisch vollzogen. Bei den Rotmützen zeigen sich die vorbuddhistischen Rituale noch sehr stark. Auch bei den Mysterienspielen im Rotmützenkloster Traktok wird das Opferritual vorgeführt. Das Töten und Zerstückeln eines Körpers wird hier unsichtbar für den Zuschauer in einer kleinen dreieckigen Kiste vorgenommen. Breiten Raum nimmt dann die Verwandlung in ein neues Leben ein. Der Tänzer mit der Hirschmaske, der wie zufällig mit seinem Schwert getötet hat, windet sich im Kreistanz und im Sitztanz, bis er dann eine kleine Holzfigur ergreift und sie wie ein Szepter haltend im Tanz mit sich herumschwenkt. Die beiden Höhepunkte des Mysterienspiels, das Töten und das Wiedergeborenwerden, werden musikalisch durch Langhörner untermalt. Der meditative Ton ändert sich, in schneller Folge werden jetzt die Langhörner posaunen- und fanfarenartig geblasen. Eindrucksvoll und gefährlich ist ein wilder Schwerttanz, bei dem sich die beiden Krieger immer schneller drehen und ohne Kontrolle ihre Schwerter herumschleudern. Beim Heraustanzen aus dem Gebäude bekommt Christa einen Schlag mit dem Knauf gegen den Kopf. Diese Tänze werden vor der versammelten Maskengesellschaft, d.h. vor den Gefährten des Padmasambhava aufgeführt.

Padmasambhava tritt dabei als Dämon mit Dreizack und Penisszepter auf. Auf dem Rückweg vom 2. Festtag im Kloster Traktok treffen wir in Leh auf eine große Menschenmenge, die einen hohen Lama mit Trommeln und Oboen zu einem Tempel geleitet. Dabei sehen wir zum ersten Mal eine Gruppe Frauen mit dem Perak, der mit Türkissteinen besetzten Kopfbedeckung. Serviert wird den zahlreichen Ehrengästen nicht Buttertee, sondern Coca-Cola. Buddhismus in einer westlich orientierten Welt oder der Sieg der Coca-Cola-Kultur über die buddhistische Tradition. Abends erfahren wir, dass am morgigen Tag in Leh gestreikt werden soll. Alle Geschäfte und Autofahrer wollen streiken. Es geht um die Loslösung Ladakhs aus dem Bundesstaat Jammu-Kaschmir.