10. Auf der Halbinsel Yucatan

Mit unserem riesigen Bus fahren wir weiter in Richtung Meer, zwischen Sumpfwäldern, vorbei an Wiesen mit Buckelrindern. Karin will uns unterhalten und veranstaltet ein Quiz zur Kultur der Indios und zum bisherigen Fahrtverlauf, lässt Verkaufsgespräche und Interviews auf Spanisch führen. Dafür gibt es Punkte. Die rivalisierenden Gruppen gröhlen und freuen sich. Am Meer machen wir eine mehrstündige Pause zum Baden oder zum Muschelnsammeln.

Beim Besprechen der nächsten Besichtigungsorte zeigt sich wieder ein Interessengegensatz in der Reisegruppe, ein Teil will möglichst viel Zeit am Meer verbringen, während ein anderer Teil möglichst lange Zeit in den Mayaruinen verbringen möchte. Sollen wir auch noch einen Abstecher nach Merida machen? Zunächst aber landen wir in Campeche in einem Hotel mit dumpfen, engen Zellen ohne Fenster. Die Wände sind kahl. Als Einrichtungsgegenstände ein brauner Stuhl, eine rosafarbene Anrichte, ein Hocker mit Fernseher und ein Klimagerät, dass uns jedesmal beim Einschalten einen Schock versetzt und das dann laut ratternd und brummend sich in Bewegung setzt. Dieses Zimmer ruft bei mir schon nach kurzer Zeit Atembeschwerden und Platzangst hervor. Einige Zimmer sind so eng, dass man die Tür nur 30 cm öffnen kann und sich nur durch die Tür quetschen kann. Dies ist auf unserer Reise die 4. ungenügende Unterkunft, die wir eher als Loch bezeichnen möchten.

Die Häuser der Altstadt sind durchweg in vielen Pastellfarben restauriert, die in der Abendsonne wunderschön leuchten. Auf dem Marktplatz präsentiert sich die Uni mit Bücherständen und einem Weihnachtsspiel, bei dem der Erzengel Michael auftritt und einige Teufel mit roten Roben und roten Hörnern. Überall in der Stadt blinken kleine Lämpchen und die Leute haben ihre Fenster geöffnet, so dass wir ihre überreich geschmückten, blinkenden Weihnachtsbäume sehen können. Dazu ertönt "Feliz Navidad" und "Jingle Bells".

Unsere Reise geht dem Ende entgegen. Noch zwei Tempelstädte werden wir besuchen, bevor wir einen Ruhetag am Meer verbringen werden. Die Nähe zu den Touristenzentren am Meer zeigt sich bald an den überhöhten Eintrittspreisen in die Ruinenstätten. Hier wird in unverschämter Weise abkassiert. Auf den normalen Eintritt von 30 Pesos werden zwangsweise 50 Pesos drauf geschlagen für die Lightshow am Abend, egal, ob man sie besuchen will oder nicht. So ist es in Uxmal und auch in Chichen Itza.

Uxmal, die Stadt des Regengottes Chac. Überall begegnen uns hier die großen Steinmasken des Regengottes. Charakteristisch sind die rüsselförmige Nase, die kugelförmigen Augen, die verzierten Augenbrauen, der grinsende Mund mit den Reißzähnen und die reduzierte oder fehlende Kinnpartie. Diese Masken sind oft kombiniert mit Kreuzstäben, die das Muster von Schlangenhäuten imitieren, mit Schlangen- und Eulenköpfen, mit menschlichen Figuren und Papageienvögeln. Besonders kunstvoll ist die Anordnung der Masken am Gouverneurspalast. Die 103 erhaltenen Chacmasken (70 mal 100 cm) mäandrieren in Form einer sich bewegenden Schlange (Symbol des Sonnenumlaufes) über die gesamte Fassadenfront. Die Ecken des Palastes werden durch fünf übereinander gesetzte Masken abgeschlossen. Dieser Ornamentalstil ist typisch für die Puuc-Region hier in Yucatan. Leider haben wir die in der Nähe liegenden Tempel von Kabah und Labna nicht besucht, die dieses Spiel mit den Motiven noch eindrücklicher zeigen sollen.

Chak, der Regengott, heißt bei den Zapoteken "Cocijo" und bei den Azteken Tlaloc ("Der die Dinge wachsen läßt"). Er ist der glotzäugige Regen- und Wassergott, Todesbringer und Spender der Fruchtbarkeit, dargestellt mit kreisrunden Brillenaugen und 4 Krügen. Aus dem Krug des Ostens spendet er fruchtbringenden Regen, aus den 3 anderen Krankheit, Frost und Trockenheit. Sein blau-weiß er Tempel stand auf der Pyramide in Tenochtitlan neben dem rot-weißen des Kriegsgottes. Für ihn wurden in bestimmten Monaten auf den Berggipfeln Kinder geopfert, deren Tränen Regen und Feuchtigkeit versprachen. Sein Kult war bei allen mittelamerikanischen Völkern verbreitet.

In den Codices ist er oft blau gemalt mit gebogener, hängender Nase, das Haar ist auf dem Kopf zusammengebunden, aus den Mundwinkeln hängen Bartfäden heraus, die in Schlangenköpfen enden, zur Erzeugung von Blitz und Donner trägt er eine Axt. Noch heute wird er angerufen und kleine Knaben quaken bei einem Ritual wie Frösche, damit Chac den Regen bringt.

In Chichen Itza fand man in dem Felsenbrunnen Cenote de los Sacrificios 13 Männer-, 8 Frauen- 21 Skelette von Kindern und Jugendlichen, die dem Regengott geopfert wurden, um Dürreperioden zu beenden.

Am nächsten Tag besuchen wir die letzte berühmte Mayastätte Chichen Itza, die uns besonders die Bedeutung der gefiederten Schlange vor Augen führt.

Die zentrale, 30 m hohe Pyramide der gefiederten Schlange Kukulkan stellt in ihren neun Plattformen die neun Bereiche der Unterwelt dar, während die 365 Treppenstufen aller vier Aufgänge auf die Tage des Jahres und 52 Platten an den Seiten der Pyramide auf die Wochen hinweisen. Die steinernen Brüstungen der Treppen laufen am unteren Ende in aufgerissenen Schlangenmäulern aus. Auf der oberen Plattform stehen zwei Schlangensäulen, ebenfalls mit dem Kopf nach unten. Zweimal im Jahr zur Tag- und Nachtgleiche wird durch die Schattenlinien der neun Ecken für drei Stunden eine langsam zu den Schlangenköpfen hinunter gleitende Linie erzeugt. Kukulkan steigt am Nachmittag herab, um die Saatzeit bzw. das Ende der Regenzeit anzukündigen und kehrt am folgenden Morgen auf der gegenüberliegenden Seite wieder zurück.

Auch alle Reliefdarstellungen des großen Ballspielplatzes künden vom Ruhm der gefiederten Schlange. Der Ball als das Symbol der Sonne durfte nicht den Boden berühren und musste, ohne ihn mit den Händen und Füßen berühren zu dürfen, möglichst lange in der Luft gehalten werden. Nach Möglichkeit sollte er sogar durch einen sieben Meter hohen Ring geworfen werden. Eine siebenköpfige Mannschaft wurde anschließend geopfert.

Ein Relief zeigt, wie aus dem Kopf des enthaupteten Mannschaftsführers sieben Schlangen herausschießen. Die Zahl sieben erinnert an die Göttin "Sieben Schlangen" (Chicomecoatl). Die Zahl sieben ist ebenfalls das Zeichen für Mais. Im Zauberkalender nimmt sie zwischen eins und dreizehn die besondere mittlere Stelle ein. Die Mitte wiederum ist mit dem menschlichen Herz und dem Herzen der Ehre identisch. Die Geopferten waren bei den Tolteken wohl die Besiegten, aber bei einigen Mayas wohl die Sieger, weil die Opferung die höchste Ehre bedeutete und weil sie dadurch gottgleich wurden. Neben dem Ballspielplatz liegt die 60 mal 15 m große Schädelplattform, auf der die Köpfe der Geopferten gelagert wurden.

Weitere Symbole von Chichen Itza sind die Zeichen der Kriegerkasten, die Jaguare und Adler. Neben den Steinschlangen zeigen die Wände des Adlertempels die Raubtiere, die Menschenherzen in ihren Klauen halten. In dem Kriegertempel trägt jede der 60 Säulen auf allen vier Seiten unterschiedliche Porträts von Soldaten in ihrer Kriegsausrüstung.

Chichen Itza zeigt am deutlichsten, wie Kunst missbraucht werden kann, wie sie in den Dienst des Tötens gestellt wurde und wie sie schaurig abscheuliche Inhalte auf wunderbare Weise ästhetisch verklärt darstellt. Chichen Itza zeigt auch, wie die Lust- und Spaßtouristen sich hier ihren Gruselspaß einverleiben oder einfach neue Fotomotive einer exotischen Hochkultur sammeln oder sportlich mühsam auf den Ruinen herumklettern, um dann wieder an den Sandstrand oder in die angenehme heimelige Welt ihrer Häuser zurückzukehren.

Wie begeistert reagieren wir, als wir vor der letzten Ruine, der "Iglesia", stehen, empfangen von den Jubelschreien unseres Volkers. Keiner ist so begeisterungsfähig wie er! Schließlich vereinigen sich in ihm die revolutionäre Energie vom Subcomandante und die sexuelle eines Romeos. mit der Entdeckerfreude eines Eroberers von fremden Kulturen. Ist er zu gut für diese Welt, die so gern spottet? Volker, zieh dir Masken über, die dich schützen. Verbirg deine Augen hinter dunklen Gläsern, du bist umgeben von Schlangen und Jaguaren.

Nach der blutgierigen Zeit der Mayakönige folgten die vernichtenden Eroberungskriege der Spanier, dann die zerfleischenden Bürgerkriege, dann die Diktaturen mit ihren Massakern. Für die Indio-Bevölkerung hat sich im Laufe der Jahrhunderte wenig geändert. Der frühe und grausame Tod blieb ihr Begleiter. Sie haben sich scheinbar an ihn gewöhnt. Die Totenschädel in den Mayaskulpturen kehren wieder im Zuckergebäck, in der Holzmaske, in der Stoffpuppe, im Karnevalskostüm. Die Indios haben gelernt, mit dem Tod zu rechnen und zu spielen. Sie wissen, der Tod ist ein Grundelement der kosmischen Ordnung, dem sie nicht entgehen können. Die Mächtigen, die Priester, die Könige, die Diktatoren, tragen die Masken des Todes. Sie sind die von den Göttern ausgewählten Herren und das zeigen sie, indem sie im Namen der Götter und der kosmischen Ordnung menschliches Blut und menschliche Herzen verlangen.--- Dann werdet ihr eingehen in das Reich Gottes. Dann werdet auch ihr sein wie Gott.---Die Verkündigung und das Versprechen aller fundamentalistischen Religionen und politischen Ideologien.

 

Wir steigen hinab in die Unterwelt einer großen unterirdischen Tropfsteinhöhle mit einer kleinen Öffnung nach oben. Neben den Tropfsteinformationen hängen lange Baumwurzeln wie Lianen von der Decke herab. Das Wasser ist so klar, dass wir Fische sehen können. Wir baden in einem heiligen Cenote und wollen die letzten Geister aus ihren Spalten und Ecken vertreiben.

Mit der Schnellfähre setzen wir über zur Insel der Frauen. In der Ferne sehen wir die Skyline des Touristenghettos von Cancun. Hier auf der Insel zeigt der Tourismus noch den Scharm eines holländischen Badeortes in den Sechziger Jahren. Zwischen mehrstöckigen Betonhäusern stehen kleine Bretterhäuser und provisorische Schuppen. In den Häusern sehen wir wieder bunt blinkende Weihnachtsbäume und eine Wand mit vielen Heiligenfiguren. Auf dem Kirchendach steht eine 3m hohe blau gekleidete Madonna über einer Wolke mit Putten und über einem Halbmond. Auf dem Zocalo steht wieder eine große Krippe mit sehr viel Viehzeug, Engeln und Rotkäppchen. Dieses Rotkäppchen mit dem kleinen Korb finden wir später auch auf dem Friedhof. Wer mag nur dieses Persönchen mit den langen Locken in altspanischer Kleidung sein? Oberhalb des Gemeindehauses blinkt eine bunte Pyramide mit einem Weihnachtsstern. Auch am Abend bleibt es warm, während mehr und mehr das Nachtleben hoch brandet. Der Ort wird zum mallorquinischen Ballermann. Aus vielen Bars dröhnt und trommelt es live. Jede Band versucht die andere zu übertönen. Glatzköpfe, Althippies, Aussteiger fühlen sich wohl. Die Einheimischen scheint der Lärmterror nicht zu stören. Die Preise in den einfachen Lokalen sind horrend. Ein Teller Fritos mixtos 40 DM. Eine Flasche Bier 5 DM. Ein einfaches Frühstück 10.50 DM.

Das Hotel liegt direkt am Meer und hat gute Zimmer. Nach der heißen Nacht scheint am Morgen die Sonne auf das tief blaue Meer. Wir überlegen, ob wir Fahrräder mieten sollen, um eine Inselrundfahrt zu machen. Auf dem Weg ins Dorf verdüstert sich der Himmel plötzlich und schon gießt es, dass innerhalb kurzer Zeit die Straße unter Wasser steht. Von den Dächern schießt das Wasser in Strömen, schüttet über die Dachrinnen. Nach ein paar Stunden hat der Regen nachgelassen. Die Bewölkung bleibt. Immer wieder drohen dunkle Wolken. Nichts Ungewöhnliches, sagen die Einheimischen. Für diese Jahreszeit ganz normal. Gegen Abend sehen wir auf dem Friedhof noch viele Engel. Engel in allen Größen. Sie legen einen Finger auf den Mund und weisen mit der anderen Hand hinauf zum Himmel. Volker, es ist nicht unsere vertraute Geste, den Zeigefinger gegen die Hutkrempe stoßen und gegen die Fingerspitze blasen, hier geht es um etwas Höheres. Sieh das Umfeld: da steht Jesus, der auf sein blutiges Herz zeigt, da steht ein Mensch in den Flammen des Fegefeuers und streckt seine Arme nach der Gottesmutter aus. Da steht ein Fischerhäuschen, da ein griechischer Säulentempel, da eine kleine Kirche, da ein großes Schiff. Das sind nicht leere Behälter, hier wohnen die Seelen im Vorgeschmack eines luxuriösen Paradieses. Jedes Grabhäuschen hat einen elektrischen Anschluss, so dass die Seelen um die Wette blinken und leuchten und das nicht nur zur Weihnachtszeit.

Mit diesen Bildern des Trostes im Herzen nach unserer Reise durch die blutige Vergangenheit der Mayas kehren wir beruhigt und entspannt nach Deutschland zurück.