Schreibwerkstatt Günter Neuenhofer, VHS-Bocholt,
21.9. - 19.10.2011

- Strukturen übernehmen
- Aus verschiedenen Perspektiven erzählen
( auktorial und personal)
- Modifizieren,Variieren, Palimpsestieren
- Selbstporträt
- Dialogisieren und "In Szene setzen"
- Hermetische Metaphern

Strukturen übernehmen

Kuno Raeber (1922 - 1992)

Bergwanderung

Und durch die Wälder
hinauf und durch die Matten
hinauf und durch das Geröll
hinauf und dann die Fläche
und dann der Schnee
und dann der eisige Wind und weit
in der Tiefe erstarrt
steinalt das Meer.

Rose

Die Rose der Dorn
die Rose der Stich
des Dorns der Rose das Blut
aus dem Stich des Dorns der Rose
rot und rot
die Blätter der Rose die Rose.

Haiku von Matsuo Basho

Du mache Feuer, und ich
will dir was Schönes zeigen:
einen Ball aus Schnee.

Aus verschiedenen Perspektiven erzählen

( auktorial und personal)

Judith Zander, “Dinge, die wir heute sagten” (2010)

Romy:

Was weiß das Dorf schon davon, das kleine Kaff im Hinterland. Mamas dusslige Heimat, »Sammelstelle für Bekloppte«, wie Papa zu sagen pflegte, bevor wir herkamen vor einem Jahr, aus der Stadt, na ja Stadt. Und sechs Kilometer machen noch keinen Unterschied. Nur döst jetzt vor der Haustür der Acker, das geschorene Feld mit den blonden, harten Stoppeln, moddrig und mürrisch, vom gleichen Schlag. Hinterm Rücken, auf der Lauer, die sogenannte Gemeinde, dort klatscht und tratscht und meckert und schuftet und lungert es wie ehedem. Und es guckt Fernsehen, hauptsächlich. Darüber der brösige Himmel, die käsige Käseglocke. Es stinkt im Dorf. »Alles Inzest«, sagt Papa.

Mittendrin der Eingang zur Hölle. Es ist nicht die Kneipe, wo bekanntlich »der Teufel Alkohol« haust. Es gibt keine Kneipe in Bresekow. Es gibt überhaupt nichts. Es ist das Zentrum des Nichts, das sich kurz hinter Berlin auftut und bis Rostock nicht aufhört.

"Na wat seggst dootau nu isse doot
Joo nu isse doot ick heww dat
De Olsch
Ich hab dat erst gestern inne Zeitung …"

Maria:

Das war vielleicht so wie mit dir, Anna, du konntst vielleicht auch nix dafür, dass dein Theo abgehauen is, und dass deine Tochter auch weg is, und alles, was passiert is, aber vielleicht doch. Ich mein, gewollt hast du das nich. Aber passiert isses ja, und da muss man sich doch fragen, warum. Du hattest wie so was um dich rum, wie so einen Schutzmantel, an dich kam keiner ran, und Henry hast du schon zur Räson gebracht, wenn er wieder mal durchhaute. Anna, nee, ich hätt mich in Grund und Boden geschämt. Wie du das so konntest.

Henry:

»Ich war das nich«, hat er gesagt, ganz laut, »ich war das nich«, sie haben gesagt, beruhig dich, du kriegst gleich was, was zur Beruhigung, gleich, er hat ganz laut gelacht und gesagt, »ich war das nich, ich war das nich, ich war das nich«, sie haben ihn festgehalten. (S.28)

Ecki:

Ick geh uch weg. Aber nich nach Anklam, und uch nich nach Neubrandenburg. Richtig, mein ick. Wird mein Vadder erst ma Kopp stehn. Ick hör dat schon: Wat wist du denn woanders, du Vadderlandsverräter, wenn dat nu jeder machen würd... Na und! Wenn dat jeder machen würd, wär dat hier bald ganz schön tote Hose, ick mein, noch mehr wie jetz. Denn wär dat hier total leer, stell dir dat ma vor, denn haust hier vielleicht bloß noch ein oller Opa in seine Hütte, und denn kratzt der am Ende uch ab, wat nich ma einer mitkriegt, weil keiner mehr da is, denn is keiner mehr da, kein Schwein, denn wird dat hier wieder Urwald oder so, wuchert die ganze Scheiße wieder zu, wie auffer Elpe. Geil. (S.455)

Pastor Wietmann:

Ach Gott. Danke für diese Pfarrstelle in der Ödnis und für den festen Glauben der Leute. Daran, dass ein Pastor zwar mehr als hinreichend, aber nicht unbedingt notwendig sei. So kann ich ihnen stets mehr geben, als sie erwarten. Ihre Erwartungen aber sind geringe. Sie haben nicht einmal erwartet, dass ich ihrer Sprache kundig sei. (S.11)

Personenliste (Zum Roman von Zander: Dinge, die wir heute sagten)

Es gibt neun erzählende Personen im Buch und neben Anna Hanske und ihren Nachkommen zwei Familien, um die sich alles dreht: die Wachlowskis und Familie Plötz.

- Anna Hanske - ist gerade verstorben, ihr Mann Theo März war nach West-Berlin geflohen und dort vor langer Zeit gestorben

- Ingrid Ishley, geborene Hanske (ihre Tochter) reist aus Irland an, begleitet von ihrem Mann Michael (einem Germanisten, der über Uwe Johnson forscht) und dem gemeinsamen Sohn Paul

- Peter ist Ingrids Adoptivbruder und lebt mit Frau und Kindern in Neubrandenburg

- Henry ist Annas Enkelsohn (Seite 26/27) und Ingrids Sohn, sie hat ihn zurückgelassen, als sie zur Beerdigung ihres Vaters nach West-Berlin durfte und ist dort geblieben

- Maria Wachlowski, geborene Behn war Annas Freundin, sie ist die Oma von Ella, ihr Ehemann Simon ist tot

- Hartmut (ihr Sohn) und Britta Wachlowski sind Lehrer und fanatische Beatlesfans

- Ella( = Elisabeth) ist ihre Tochter und kann mit den Beatles gar nichts anfangen

- Thorsten (ihr Bruder), studiert in Berlin, wahrscheinlich ist der Vater ein Kunstgeschichtsprofessor von Britta

- Sonja Plötz, die Jugendklubleiterin ist die Frau von Friedhelm und Mutter von

- Romy Plötz, die sich zum Entsetzen von Ella für die Beatlesplatten ihrer Eltern begeistert

- John und Paul sind nicht nur zwei der Beatles, sondern auch zwei tote Flußkrebse

Palimpsestieren/ „fremde Untergründe“

Ein Palimpsest („reiben, (ab-)schaben“) ist eine antike oder mittelalterliche Manuskriptseite oder -rolle, die beschrieben, durch Schaben oder Waschen gereinigt und danach neu beschrieben wurde (lat. codex rescriptus). Palimpsestieren ist der Vorgang des Wiederbeschreibens. Die Technik des Palimpsestierens wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts mehrfach als Metapher für geistige und kreative Prozesse verwendet.

Strukturalisten sagen, dass Schreiben nur im Dasein von anderem, bereits Geschriebenem existiert. In der literarischen Avantgarde ist das Palimpsest neben der Collage und Montage ein zentrales künstlerisches Verfahren. Ein Gedichtband des ukrainischen Dichters Wassyl Stus trägt den Titel Palimpseste.

"Modifikation". Übermalte Reproduktion einer Madonna mit Kind von Filippo Lippi, Florenz um 1450 durch Asger Jorn, um 1959

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Im abstrakten Expressionismus, insbesondere bei der Künstlergruppe CoBrA, wird das Prinzip der Wiederbenutzung von Papieren (z. B. auch Landkarten) ebenfalls unter dem Begriff „Palimpsest“ zusammengefasst, insbesondere bei Arbeiten von Pierre Alechinsky und Asger Jorn.

Pierre Alechinsky: „Ich arbeite auf verschiedenen Malgründen ... Seiten aus alten Kassenbüchern, Notariatsakten, alte Rechnungen, russische Drucke, veraltete Flugkarten etc., die ich nach dem Palimpsest-Prinzip neu bearbeite, indem ich mich von der Lektüre der Alltagssorgen anderer Zeiten leiten lasse, die den unseren so ähnlich sind.“

Texte von Judith Zander (geb.1980)

http://www.literaturwerkstatt.org/uploads/tx_pdfdownload/Judith_Zander.pdf
http://www.onleihe.de/static/content/dtv/20110504/978-3-423-40725-0/v978-3-423-40725-0.pdf

Judith Zander (2010):

My Luve

Burns no more

O my Luve`s wie ein Pilzgericht
das mundet jahrelang
O my Luve`s wie ein allerlei
das macht zuletzt ganz bang

so reicherst du mich sachte an
wie jene ingredienz
man handelt dich nicht mehr my Dear
es geht hier nicht um Trends

es geht um jenes mahl my Dear
nachdem die lorchel sticht
nach dem das gehen bleibt my Dear
ein pilzrest und ich nicht

die letzte strophe fehlt my Luve
ein nachtisch nur ein wort
sprich only wärm`s nicht auf my Luve
wirf topf und deckel fort

Robert Burns, Original von 1794

O my Luve's like a red, red rose
That’s newly sprung in June;
O my Luve's like the melodie
That’s sweetly play'd in tune.

As fair art thou, my bonnie lass,
So deep in luve am I:
And I will luve thee still, my dear,
Till a’ the seas gang dry:

Till a’ the seas gang dry, my dear,
And the rocks melt wi’ the sun:
I will luve thee still, my dear,
While the sands o’ life shall run.

And fare thee well, my only Luve
And fare thee well, a while!
And I will come again, my Luve,
Tho’ it were ten thousand mile.

Übers. von Winterfeld, 1860

Oh meine Liebe ist wie eine rote Rose
die unlängst im Juni erblühte
Oh meine Liebe ist wie eine Melodie
die tief ins Herz ich schrieb

so weit du auch bist, mein schönes Kind
so tief ist meine Liebe,
das ich dich immer lieben werde
bis das die Meere zerstieben, mein Lieb

und der Fels in der Sonne verrinnt
ich werd dich immer lieben, mein Kind
während der Sand des Lebens zerrinnt

So leb denn wohl, mein einziges Lieb
so leb denn wohl und verweile
doch einmal kehr ich zurück, mein Lieb
und wären es zehntausend Meilen

wörtliche Übersetzung:

Mein Lieb ist gleich der rothen Ros
Die frisch im Juny sprang:
Mein Lieb ist gleich der Melodie,
Die süß im Lied erklang.

So schön wie Du, o holde Maid,
Ist meine Lieb’ für Dich;
Und ich will lieben Dich, mein Lieb,
Bis Sonn’ und Mond verblich.

Bis Sonn’ und Mond verblich, mein Lieb,
Und Fels im Meer ertrank:
So lange will ich lieben Dich,
Mein ganzes Leben lang.

Nun lebewohl, mein einzig Lieb,
Lebwohl für kurze Zeit!
Ich komm’ zurück, mein Lieb, wär’s auch
Zehntausend Meilen weit.

J.Zander: Žuljana (1 - 7 )

1
kennst du das land wo
oleander die abendwellen weiden
die oliven bäumchen wechsel dich
spielen die ganze nacht du am mittag
nicht tun musst als hättest du
etwas bemerkt wenn du deine
weißen schritte zwischen sie häkelst

J.W.v.Goethe

1. Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?
Kennst du es wohl? Dahin!
Dahin möcht' ich mit dir,
O mein Geliebter, ziehn.

2. Kennst du das Haus?....
3. Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?

Selbstporträt

"Marion Poschmanns Gedichte wenden sich dem Unklaren, dem Unfassbaren, dem „holden Ungefähr“ zu. Aber sie zählen dabei nicht auf das gefühlige Mitschwingen, sondern auf das um Aufklärung bemühte Nachdenken des Lesers. Das macht sie zu einem beglückenden Leseerlebnis."

http://www.badische-zeitung.de/literatur-1/laudatio-auf-die-huchel-preistraegerin-2011--43732717.html

Marion Poschmann: Selbstporträt als Innozenz (2010)

Mit purpurnen Mänteln beginnt erst die Arbeit
am Pontifikalen. ich stand auf der Roten Reliquienliste,
ein Über-Ich erster und zweiter Ordnung, auf
Isolierstation, im gabinetto versteckt; die imitatio

rücksichtslos flammender Herzen ist echt: blinde Spiegel
sind jetzt den richtigen Rahmen gewichen, die Macht
der Erscheinung zu wahr, nur zu wahr, um als
Denkmal zu gelten meine Ersetzungsgestalt

bewegt sich wie riesender Putz, wie von selbst. Aufgegebene
Geschlechtsorgane, schlaffe Spitzen, Samtgewänder
hängen mir am Gerücht eines Leibes, als schwebte ich
über den Dingen. nie endet die Arbeit am Pontifikalen,

ich muß mit zusammengepreßten Lippen
meine Namen daran hindern, auszufahren

Bilder von Velasquez (1650) und Francis Bacon (1953)

-

Bacon: „Ich benutzte es [das Papstbildnis von Velasquez (1650)] als Grundlage. Zwei oder drei Jahre lang stand ich im Bann dieses Gemäldes. Und hypnotisiert wie ich war, versuchte ich ähnliche Bilder zu schaffen. Meine Versuche scheiterten, weil sie zu sehr übertrieben, sie waren zu eindeutig und zu billig. Ich war wie in Trance und stellte ununterbrochen Versuche an, mit denen ich sehen wollte, was dabei herauskommen könnte.“ (1950)


Selbstbildnis im Supermarkt
von Rolf Dieter Brinkmann
für Dieter Wellershoff

In einer
großen
Fensterscheibe des Supermarkts
komme ich mir selbst
entgegen, wie ich bin.
Der Schlag, der trifft, ist
nicht der erwartete Schlag
aber der Schlag trifft mich
trotzdem. Und ich geh weiter
bis ich vor einer kahlen
Wand steh und nicht weiter
weiß.
Dort holt mich später dann
sicher jemand
ab.

Wenn ich dereinst, Wilhelm Busch (1873)

Wenn ich dereinst ganz alt und schwach,
Und's ist mal ein milder Sommertag,
So hink ich wohl aus dem kleinen Haus
Bis unter den Lindenbaum hinaus.
Da setz ich mich denn im Sonnenschein
Einsam und still auf die Bank von Stein,
Denk an vergangene Zeiten zurücke
Und schreibe mit meiner alten Krücke

Königstochter, Judith Zander

als meine wangen noch teig waren
milchgebäck meine stirn ein hoher
halbmond auf dem die flagge meines
erdbeerblonden namens wehte nur mir
gehörte als noch das morgen
dunkel zu zöpfen gebunden
ward eile das halstuch zu
holen gespielin die einmal die
beine in die hände nahm als ich noch
felsengleich spielte in strauchengen
himmeln und wurzeln von rauch
gelber farbe zerkniff mit den nägeln
den schnecken angeblich ähnlich war sommers
fliederblätter briet ohne gnade im tran
als mich noch bange nicht angst siebte ich
die sätze noch malte zwischen die punkte
auf jedes haus- und hofpapier

http://www.dtv.de/_pdf/blickinsbuch/24794.pdf?download=true

Andri Snaer Magnason: aus „Bonus – Supermarktgedichte“

Mein Großvater war zu 70% Wasser
mein Großvater war zu 70% Bach
der den Berg hinabfloss
am Haus vorbei
Er war zu 30%
Forelle im Bach
Schneehuhn auf der Heide
und Lämmer im Gras
das sich im Wind wiegte
rings ums Haus

Ich bin keine 70% Wasser
höchstens 17% Sprudel
der Rest ist eine Mischung aus Cola Light und Kaffee
Ich bin italienische Pasta und chinesischer Reis
Ich bin dänischer Schinken und südafrikanische Ananas
durch meine Adern fließt amerikanisches Ketchup.

Dialogisieren und "In Szene setzen"

Dialoge schreiben zu Bildern von Edward Hopper

Die Bilder des amerikanischen Malers Edward Hopper erzählen ihre eigenen Filmgeschichten. Manchmal glaubt man in ihnen Filme zu erkennen, die man gesehen hat; meistens erträumt man mit ihnen Filme, die es nie gegeben hat. Man glaubt Gesten zu sehen, Gesprächsfetzen zu hören, einen Filmausschnitt zu erleben.

1. Schreibe zum Hopper-Bild eine Mini-Szene mit Dialog in reduzierter Form, d.h. eine Kommunikation in kürzester Sprachform, z.B. in Einwort- bzw. Zweiwortsätzen und in Ausrufen

2. Schreibe eine kurze Theaterszene zu einem realistischen Alltagsgeschehen (s. Kroetz: Heimarbeit)

3. Erfinde ein symbolisches Tableau mit Landschaft und Personen und schreibe ein Selbst-gespräch bzw. einen Dialog dazu (s. Beckett: Glückliche Tage)

Metaphorisierung des Alltäglichen
Hermetische Metaphern

Der zentrale Begriff der hermetischen Lyrik ist die Chiffre, die zusätzliche Bedeutungsebenen einführt, die durch Modifizierungen, Verschiebungen oder neue Fügungen des Autors vom Alltagsgebrauch der Wörter abweicht und für den Leser nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist und manchmal sogar ganz verschlossen bleibt. Vor dem Verstehen des Gedichtes steht eine bewusste „Dechiffrierungsleistung“.

Paul Celans: Todesfuge

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz