Eine Märchenreise durchs schweizerische Wallis

Auf den Spuren der Gogwärgi

Am Ende des Lötschentales, in 1815 m Höhe auf der Fafleralp, Anfang Juli. Das Eis der Gletscher ist noch von einer leuchtend weißen Schneeschicht bedeckt, die Alpenrosen blühen noch rotbraun. Die Wasserbäche rinnen und tosen über Fels und Wiesen zu Tal, der Himmel ist wolkenlos, die Luft sommerlich warm. Wir wandern über die uralten Rücken, die vor Millionen von Jahren, als sich das Eis noch durchs Haupttal hinunter schob, entstanden. Sie liegen dort als riesige Steinrücken, unbeweglich, bedeckt mit einer Schicht aus Grün, Moos, Alpenrosen, Krüppelkiefern. An einigen Stellen zeigt sich noch ihr steinerner Leib, überzogen von tiefen Schrunden. Die Murmeltiere nutzen die Flächen als Spielplatz oder sie graben an den Rändern tiefe Höhlengänge.

Oberhalb der Alp hängen die großen Gletscher zu Tal. Uralte, erstarrte Leiber mit einer grau-weißen, manchmal blau schimmernden Haut, die vom Alter aufgesprungen ist und tiefe Risse zeigt. Unmerklich bewegen sie sich oder werden bewegt. Manchmal brechen Stücke ihres Fleisches ab und zerfallen in kleine Stücke.

Da ist der massige Walleib mit Gliedern, mit dem langen Hals oder dem langen Drachenschwanz. Wie eine Riesenechse drückt er seinen Bauch in die Gebirgsmulde. Oder ist es eine Riesenfrau? Erstarrt auf der Flucht aus höheren, eisigen Regionen? Nur z.T. sind ihre Blößen von einer weißen Schneeschicht bedeckt, die ihr die Sonne von Tag zu Tag mehr entreißt, um auch an ihrem Fleisch zu nagen. Noch liegen die uralten Leiber oder Riesenzungen zwischen den Graten oder hinter den Bergrücken und bieten den Gogwärgi und den Seelen der büßenden Toten Heimat und Zuversicht.

2355 m hoch, gegen 18 Uhr, auf dem Rückweg von der Ahnenhütte, da sehen wir sie zum ersten Mal: drei alte Wybli.

Sie waren uns aufgefallen durch ihr seltsames Gebahren. Sie scheinen immer wieder durcheinander zu torkeln. Sie drehen sich, als ob sie tanzen wollen, bleiben stehen, sind plötzlich verschwunden. Seltsamerweise können wir sie nicht einholen. Der Abstand bleibt. Später, als die drei bereits verschwunden sind, taucht ein weiteres Wybli auf. Tastend wie eine Blinde bewegt es sich über einen schmalen Bergweg. Vorsichtig setzt es die Füße auf, so als ob es nicht richtig gehen könne. Dabei bleibt es immer am Wegrand, wo einige Büschel Gras stehen. Später sehen wir, dass es mit nackten Füßen über den steinigen Weg läuft. Kein Wort sagt es, aber mit großen Augen schaut es auf uns. Mir fällt die Sage von der büßenden Mailänderin ein, die über den Aletschgletscher wandern musste, während ihr Leichnam noch warm in Mailand auf dem Totenbette lag. So hatte ein Kuhhirte in früheren Zeiten berichtet. Hier vor und neben uns hat sich wieder jemand auf den Weg gemacht durch den Staub und über die spitzen Steine, um eine übermäßige Leidenschaft unter den Fußsohlen zu büßen. Kurios und recht ungewöhnlich erscheint uns solches Tun, obwohl die Frau oben im Fels, deren Körper von den Hüften abwärts im eiskalten Gletscherwasser steckt, den Kopf mit einer dicken Kappe aus mooriger Erde bedeckt, den ganzen Tag dort steht, der Sonne zugewandt. Aber wir hören sie nicht singen und sehen sie nicht lächeln wie die Gletscherjungfrauen, die bis zu den Schultern im Aletscheis sitzen. Vielleicht weiß sie nicht, dass nach einer gewissen Zeit die Erlösung erfolgt. Viele warten dort oben im Gletschereis. Es sind die armen Seelen, die in den blauen Gletscherspalten leben und zwischen den Steinen des Wassers gurgeln und hüpfen.

Irgendwann hat der Gogwärgikönig mit seinem Stamm das Tal verlassen. Nur wenige sind zurück geblieben, die so genannten Wybli. Seit das Leben im Tal wieder leichter geworden ist, kommen manchmal die Nachfahren der alten Gogwärgi als Touristen. Sie tragen nicht mehr die auf links gedrehten Wollfäustlinge an den Händen und Füßen, sie bauen aus ihren Wohnwagen eine Wagenburg, hocken im inneren Kreis zusammen, trinken Milch und besuchen die alten Versammlungsorte, dann verschwinden sie wieder. Humpelnd, gebeugt, auf Stöcke gestützt sehen wir eine Gruppe von ihnen auf dem Weg zum See hinauf.

Wenn wir in eine windgeschützte Mulde mit blühenden Alpenrosen, dunkelblau glühendem Enzian und streng riechenden Kräutern geraten, dann taucht die Erinnerung an eine Zeit vor 1000 Jahren auf, als Ahasver noch ab und zu die fruchtbaren Hochtäler besuchte und durch die Obst- und Weingärten ging.

Einige Tage später, als wir von Zinal aus in 2450 m Höhe über kleine Schneefelder stapfen, machen wir Bekanntschaft mit einer anderen Rückzugsform der Gogwärgi. Ein dicht-gelocktes, weißes Fell, eine schwarze Schnauze und am Kopf zwei gedrehte Hörner kennzeichnet sie. Halb eingegraben im Schneefeld liegen sie oder drücken den Kopf in schmale Felsspalten.

Als wir weiter das Rhonetal hinunterfahren, dorthin, wo auch die Kelten und Römer gesiedelt hatten, sehen wir im Skulpturenpark Giannada in Martigny die modernen Abbilder der Gogwärgi, gestaltet von Max Ernst und Segal u.a. neuzeitlichen Künstlern.

In Genf finden wir sogar eine Sammlung verschiedener Gogwärgi-Existenzformen in der Ausstellung "5000 Jahre Menschen".

Den Friedhof einer lebenden Gogwärgi-Gemeinschaft finden wir erst im französischen Sagy bei Chalons. Der Grabschmuck zeigt offen die archaischen Ideale. Häufig ist der Verstorbene mit Hund und Gewehr als Jäger abgebildet, aber auch als Angler und als Motorradfahrer.

Zum Nachmittag flattern auffallend viele schwarze Krähen am Rand eines Neugrabes und versammeln sich dann auf den Ästen eines abgestorbenen Baumes. In der Dämmerung nähern sich schließlich die Eulenstimmen der Verstorbenen, bis jede Seele das zugehörige Grab gefunden hat. Ein Winseln, ein Atmen, ein Röcheln. Erst gegen Morgen mit dem gehämmerten Ruf eines Spechtes verschwindet der Spuk und die Gogwärgi-Gräber liegen still und friedlich in der Morgensonne.

Seit dieser Begegnung mit den Gogwärgi sind mir die Augen geöffnet und ich sehe die versteckten Gogwärgi auch im deutschen Alltag in den Supermärkten und auf den Stadtfesten und höre sie in den Fernsehprogrammen.

Die Gogwärgi sind überall.